Seite nicht gefunden – 6.0 https://sechsnull.de Wir zeigen Zukunft. Wed, 15 Feb 2023 09:12:28 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.3 https://sechsnull.de/site/wp-content/uploads/2022/12/cropped-android-chrome-512x512-1-1-32x32.png Seite nicht gefunden – 6.0 https://sechsnull.de 32 32 Robotisch für alle https://sechsnull.de/robotisch-fuer-alle/ Wed, 15 Feb 2023 09:12:25 +0000 https://sechsnull.de/?p=6121 Das Dresdner Unternehmen Wandelbots hat eine No-Code-Software entwickelt, die menschliche Aktionen für Roboter verständlich macht. Mit dem Übersetzungsprogramm ist jedermann in der Lage, Robotern etwas beizubringen – ganz ohne ultrakompliziertes Programmieren.

Sorgfältig überzieht der Roboter die Kanten des Bauteils mit Kleber. Von oben wird das Gegenstück aufgesetzt und beide Teile verschmelzen zu einer Einheit. Das Aufbringen des Klebers in stets gleichbleibend perfekter Qualität ist nicht etwa das Ergebnis einer hochkomplizierten Maschinenprogrammierung. Der Roboter macht einfach nach, was ein Maschinenbediener ihm vorgemacht hat. Ganz ohne Programmierkenntnisse hat er den Roboter angelernt, wie einen Lehrling: Indem er ihm gezeigt hat, wie es geht.

Benutzt hat er dazu einen sogenannten TracePen von Wandelbots. Der Stift funktioniert im Prinzip wie eine PC-Eingabemaus und lässt sich mit verschiedenen Arbeitsaufsätzen ausstatten: Klebepistole, Schweißdüse, Fräse, Feile – jedes Werkzeug ist möglich. Der Maschinenbediener zeichnet mit dem TracePen das Aufbringen des Klebers vor. Zahlreiche Sensoren im Eingabegerät erfassen jede seiner Bewegungen und übermitteln die Daten an die intuitiv zu bedienende Wandelbot Teaching App. Eine hochkomplexe Software verarbeitet im Hintergrund die Daten und übersetzt die Bewegungen in Algorithmen, die der Roboter versteht. Mit diesen Informationen kann er den Vorgang perfekt nachmachen. Auf diese Weise lässt sich einem Roboter so ziemlich alles beibringen. Er packt jede Tätigkeit von einfach bis komplex. Und das Beste: ihm wird nie langweilig, er wird nie müde, seine Arbeitsergebnisse sind auch nach dem x-ten Teil gleichbleibend perfekt.

„Ich zeig dir, wie’s geht Rob“

Wie funktioniert das Teachen eines Roboters? Eine Erklärung in Bildern.

Der von Wandelbots entwickelte TracePen ermöglicht es, Robotern beliebige Aufgaben beizubringen – intuitiv und ganz ohne Programmierkenntnisse.

Zunächst setzt der Anwender den TracePen in eine Halterung am Roboterarm und startet die Kalibrierung.

Damit werden eventuelle Abweichungen zwischen TracePen (Eingabegerät) und Werkzeug (Roboterarm mit Aufsatz) festgestellt und dokumentiert.

Dann stattet der Anwender den kabellosen TracePen mit einem passenden Werkzeug aus – etwa einer Schweißdüse oder einem Lötkolben.

Jetzt führt er die Aufgabe wie gewohnt durch. Dabei kann er freie Bewegungsbahnen, wie Schweißabläufe, vorgeben. Aber auch Punkt-zu-Punkt-Anwendungen, wie Schrauben oder Punktschweißen sind möglich.

Die ausgefeilte Sensorik im Inneren des TracePen erfasst alle Bewegungen des Anwenders. Die Wandelbots Software übersetzt diese Daten in für Roboter verständliche Programmcodes.

Die Programmcodes werden an die Maschinensteuerung übermittelt und die Software übernimmt die Programmierung des gesamten Fertigungsablaufs.

Die Maschinensteuerung übermittelt die für die Produktion notwendigen Daten zurück an den Roboter. Dieser führt dann exakt die Aufgabe aus, die ihm der Anwender vorgemacht hat.

Darauf hat die Welt gewartet

Die Software, die menschliches Tun digitalisieren und in Robotersprache übersetzen kann, ist hochkompliziert und sie hat das Zeug dazu, die Welt zu verändern. Entwickelt wurde sie nicht etwa im kalifornischen Silicon-Valley, sondern an der Universität Dresden. Dort beschäftigten sich Christian Piechnick, Maria Piechnick, Georg Püschel, Jan Falkenberg, Sebastian Werner, Giang Nguyen und Christoph Bieringer 2009 während eines Forschungsprojekts das erste Mal mit Industrierobotik. „Für mich war die Robotik bis dahin die Speerspitze der Innovation“, erinnert sich Piechnick. „Ich bin deshalb fast vom Stuhl gefallen, als ich realisiert habe, dass die damals verwendeten Technologien noch aus den 90er Jahren stammten.“

Die Wandelbots Experten entwickeln Software, die menschliche Bewegungen mithilfe von Sensorik in für Roboter verständliche Algorithmen übersetzt. Diese Übersetzung ist universell – das heißt sie funktioniert herstellerübergreifend.

Die sieben Doktoranden nahmen sich vor, das zu ändern.  „Wir hatten die Vision, Roboter zu demokratisieren. In Zukunft soll jeder mit ihnen kommunizieren können“, fasst Piechnick die Initialidee zusammen. Aus der Vision ist inzwischen handfeste Wirklichkeit geworden. 2017 gründet Piechnick gemeinsam mit den vier anderen das Startup Wandelbots. Und als ob die Welt nur auf jemanden gewartet hätte, der die Dinge endlich in die Hand nimmt, rennen die Dresdner bei Roboterherstellern, der Industrie, Softwareunternehmen und zahlreichen Investoren weltweit offene Türen ein. Bis 2020 haben sie bereits fast 32 Millionen Euro an Investorengeldern eingesammelt.

Eine etwas andere Firmengeschichte

Vom Startup zum internationalen Game-Changer.

Türöffner für die Automatisierung

Heute arbeiten am Hauptfirmenstandort Dresden rund 160 Mitarbeitende. Das Team ist international und interdisziplinär aufgestellt und arbeitet mit Hochdruck daran, die No-Code-Software weiter zu verfeinern. Eine weltweit standardisierte Roboterkommunikation soll es ermöglichen, Roboter überall flexibel, also wandelbar, einzusetzen. „Im Grunde bauen wir ein einheitliches Betriebssystem wie Windows, nur eben für Roboter“, fasst Piechnick zusammen.

„Allein in den USA fehlen 400.000 Schweißfachkräfte.“

Christian Piechnick, Gründer und Co-CEO

Die Vorteile dieser Standardisierung liegen auf der Hand. „Bisher kochte jeder Roboterhersteller sein eigenes Süppchen“, erklärt Piechnik. „Die Folge war, dass jeder Roboter anders programmiert werden muss. Wer also in seiner Fertigung vier verschiedene Roboter einsetzt, braucht entweder ein Programmiergenie oder mehrere Programmierer. Der personelle, zeitliche und finanzielle Aufwand hat viele abgeschreckt.“ Die No-Code-Lösung von Wandelbots könnte nun auch für mittelständische und kleine Betriebe ein Türöffner zur Automatisierung durch Roboter sein. „Hier ist der Automatisierungsdruck aufgrund des Fachkräftemangels besonders hoch. Dazu kommt, dass immer kleinere Stückzahlen hohe Flexibilität bei der Fertigung erfordern“, weiß Piechnick und ergänzt. „Allein in den USA fehlen 400.000 Schweißer. Genau hier können einfach anzulernende Roboter künftig eine Lücke schließen.“

„Wir demokratisieren Roboter“

Menschen bei Wandelbots erklären wie das geht.

„Wir haben uns die Robotik aus unterschiedlichen Blickrichtungen angesehen. Das Know-how einer Gruppe von Elektrotechnikern, Maschinenbauern, Informatikern und die Expertise meiner Frau Maria im Bereich Wearables verschmolz zu einem bunten Potpourri, aus dem Wandelbots entstanden ist.“

Christian Piechnick, Gründer und Co-CEO

„Als wir unsere Idee 2016 auf dem KUKA Innovation Award in Hannover vorgestellt haben, wurde uns erst so richtig bewusst, was für ein großes Problem es ist, Mensch und Technologie zusammenzubringen.“

Maria Piechnick, Mitgründerin

„Unsere Software ist universell für alle Roboterarten anwendbar und nicht nur für einen bestimmten Robotertyp. Mit diesem Alleinstellungsmerkmal wollen wir die führende Roboterplattform werden. Also die Plattform, die man benutzt, wenn man einen Industrieroboter programmieren möchte.“

Georg Püschel, Mitgründer und CTO

„Wir wollen Unternehmen nachhaltig zum Wachsen bringen. Mit unserer Robotiklösung tragen wir dazu bei. Zu sehen, wie Jobs, die Menschen nicht selbst machen möchten, an Roboter abgegeben werden können, fasziniert mich ebenso wie der Gedanke, etwas ganz Neues mit aufzubauen.“

Katharina Jessa, Chief Revenue Officer (CRO)

„Wir haben ein sehr neues Produkt. Da ist die permanente Begleitung unserer Kunden nach dem Kauf extrem wichtig. Ihre Erfahrungen und ihr Feedback helfen uns dabei, unser Angebot kontinuierlich zu verbessern.“

Grit McKenny, Customer Success Manager

„Für mich waren Roboter immer etwas für Experten. Seit ich bei Wandelbots bin weiß ich, dass auch ich sie kontrollieren kann, dass sie etwas für mich tun können. Dafür möchte ich auch Kunden und Interessenten begeistern.“

Dikachi Chizim, Content Marketing

„Immer mehr Unternehmen führen Roboter ein. Wir unterstützen sie dabei. Nicht um Mitarbeiter zu ersetzen, sondern um ihnen das Leben zu erleichtern.“

Vishwam Thirupathi Kasi, QA Engineer

„Durch die Gestaltung unseres Produkts möchten wir Berührungsängste reduzieren. Es muss sich natürlich anfühlen, mit einem Roboter zu interagieren.“

Christoph Philipp Schreiber, Design Team

„Für mich als Softwareentwickler ist der Kontakt zu Kunden wichtig. Denn um Robotik einfach zu machen, muss ich zunächst verstehen, wie Anwender Roboter wahrnehmen. Ich muss begreifen, was ,einfach‘ für sie bedeutet.“

Erik Plesko, Junior Robot & PLC Programmer

„Wir haben eine ähnliche Vision wie Microsoft im PC-Bereich. Wir demokratisieren die Robotik. Meine Aufgabe ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, indem ich Prozesse und Strukturen etabliere, die das Business wie eine Maschine zum Laufen bringen.“

Bernd Heinrichs, Co-CEO

Durch Integration schnell zum Erfolg

Um die Voraussetzungen für eine umfassend einsetzbare direkte Mensch-Maschine-Kommunikation zu schaffen, gibt es für die Entwickler:innen bei Wandelbots noch viel zu tun. „Schneller und noch besser werden wir, indem wir uns Unterstützung holen“, sagt Piechnick. Eine offene Programmierplattform bietet Spezialisten aus der Industrie die Möglichkeit, ihre Applikationen mit dem standardisierten Software Development Kit (SDK) von Wandelbots zu entwickeln. Je mehr Programmierer die SDKs verwenden, desto schneller lassen sich herstellerübergreifend Industrieroboter mithilfe der Wandelbots App programmieren.

„Es gibt weltweit schätzungsweise 28 Millionen Softwareentwickler, davon können nicht einmal eine halbe Millionen Roboteranwendungen bauen.“

Christian Piechnick, Gründer und Co-CEO

Ein weiterer Vorteil der gemeinsamen Entwicklungsplattform ist, dass jeder Experte sein ganz spezielles Wissen für das Große und Ganze einbringt. „Einen Schweißvorgang beispielsweise kann eben am besten ein Schweißexperte vormachen – oder derjenige, der die automatisierte Schweißanlage konstruiert und gebaut hat“, so Piechnick. Er denkt auch an das riesige Potenzial, das sich weltweit für eine umfassende Lösung nutzen ließe: „Auf diesem Planeten gibt es schätzungsweise 28 Millionen Softwareentwickler. Davon können noch nicht einmal eine halbe Million Anwendungen für Roboter bauen. Sie arbeiten bei Unternehmen wie Google, Facebook und Netflix. Wenn wir diesen kreativen Entwicklern die Robotik erschließen, können wir eine Technologieplattform schaffen, auf der viele Menschen mit großartigen Ideen gemeinsam unterschiedlichste Roboterlösungen entwickeln.“

„So geht Zukunft“

Co-CEO Bernd Heinrichs erklärt, wie er Wandelbots vom Start-up zum Weltmarktunternehmen formen wird.

Im Team unschlagbar

Auf Aufgabenteilung baut Wandelbots auch intern. Seit Oktober 2021 ist mit Bernd Heinrichs ein erfahrener Experte an Bord. Heinrichs hat zuletzt bei Bosch als Executive Vice President & Chief Digital Officer die Sparte Mobility Solutions geleitet und blickt auf eine fast dreißigjährige Karriere zurück. Als einer der ersten Mitarbeiter von Cisco in Deutschland gelang dem promovierten Informatiker der Startschuss für eine rasante Geschäftsentwicklung und auch bei Wandelbots wird er künftig als Co-CEO das nachhaltige Wachstum des Unternehmens mitgestalten.

Heinrichs ist für die Bereiche Finanzen, Operations und Human Resources zuständig und der Mann mit der meisten industriellen Erfahrung bei Wandelbots. Das nimmt er selbstbewusst und mit einem Schmunzeln hin: „Unser Altersdurchschnitt liegt derzeit bei circa 30 Jahren, und es kommen immer wieder neue junge ambitionierte Leute dazu. Aber wir suchen in diesem Stadium der Firmenentwicklung bewusst auch erfahrende Mitstreiter.“ Das Wichtigste ist ihm aber, dass die Chemie stimmt: „Diese Company hat eine DNA, die auf Innovation, Wachstum sowie Fast Invest aufbaut, aber auch auf dem Spaß daran, etwas Neues zu schaffen, mit dem sich Großes erreichen lässt. Das darf man nicht kaputtmachen.“

Seine Aufgabe sieht er deshalb darin, Prozesse zu etablieren, die dem schnellen Wachstum gerecht werden, mit denen aber der Geist der Firma weiterlebt. Dass Wandelbots ein Game-Changer wie Microsoft, Google oder Amazon werden kann, bezweifelt er nicht: „Wir haben durch ein hervorragendes Engineering einen Technologievorsprung, der sich jetzt auszahlt. Und wir haben ein Team aus tollen Persönlichkeiten, ausgestattet mit einer Expertise, die es in diesem konzentrierten Level weltweit wohl kein zweites Mal gibt. Ich bin dafür zuständig, das Business wie eine Maschine zum Laufen zu bringen und dazu gehört es auch, ein bisschen auf die Bremse zu treten. Wir müssen uns fokussieren, auch wenn noch so viele kreative Köpfe jeden Tag neue Ideen haben. Dann sehe ich uns in ein paar Jahren an der Börse.“

„Ein Personal-Robot für alle”

Wandelbots Gründer und Co-CEO Christian Piechnick über die künftige gesellschaftliche Bedeutung von Robotern.

Auf zum Personal-Robot

Christian Piechnick feilt mit seinem Team daran, Robotik endlich zu dem zu machen, was sie für ihn schon immer war: zur Speerspitze der Innovation: „Roboter werden in den nächsten 30 Jahren für uns dieselbe gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben, wie PCs und Smartphones in den vergangen 30 Jahren.“ Und er hat auch schon eine Vorstellung davon, wie die Entwicklung weitergeht: „Schon in den nächsten fünf bis zehn Jahren kann ich mir Personal-Roboter vorstellen, die ganz selbstverständlicher Bestandteil des Alltags sind.“ Er denkt dabei nicht an humanoide Roboter, oder solche, die nur bestimmte Handlungen ausführen: „Ich schätze, es wird etwas Flexibles sein, das ich ähnlich wie mein Smartphone mithilfe von Apps für verschiedene Dinge nutzen kann.“

Wandelbots GmbH

Die Wandelbots GmbH mit Sitz in Dresden hat sich die Demokratisierung von Robotern auf die Fahne geschrieben. Dazu entwickelt das Unternehmen No-Code-Software, die es auch Nicht-Programmierern ermöglicht, Robotern neue Fähigkeiten beizubringen, ohne eine einzige Zeile Code zu schreiben.


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Die deutsche Industrie gibt sich die Quanten https://sechsnull.de/ibm-quantencomputer-und-deutsche-industrie-unternehmen-projekte-und-anwendungen/ Tue, 31 May 2022 10:37:00 +0000 https://sechsnull.de/?p=5674 In einem Örtchen bei Stuttgart thront Europas erster kommerziell nutzbarer Quantencomputer. Alle jubeln erstmal – doch was sollen deutsche Großkonzerne und Mittelständler jetzt eigentlich damit machen? Quantencomputer konkret, no Bullshit – ein Überblick.

Die deutsche Industrie war in den letzten Jahrzehnten überaus erfolgreich darin, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen (Solar, MP3) oder Züge zu verpassen (Künstliche Intelligenz, E-Mobilität). Mit dem Zukunftsthema Quantencomputing will man es jetzt besser machen.

Die Fraunhofer Gesellschaft nimmt die Sache in die Hand und hat vom amerikanischen Computergiganten IBM einen Quantum System One geleast – das ist der erste kommerziell nutzbare Quantencomputer in Europa. Diesen stellt Fraunhofer deutschen Unternehmen via Cloud zur Verfügung.

Dr. Christian Tutschku vom Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO leitet sowohl das Team Quantencomputing als auch das Schulungsprogramm für Quantenalgorithmen, in das die Unternehmen ihre Programmierer schicken.

Er betont, es sei ein entscheidender Vorteil, dass dieses Wunderding auf deutschem Boden steht. So sei gewährleistet, dass die Unternehmen ihn gemäß der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) nutzen. Oder anders gesagt: IBM hat nicht den blassesten Schimmer, was auf dem Rechner passiert und kann nicht mal eine Benutzungsstatistik erstellen. Sämtliche Daten verwaltet Fraunhofer in Zusammenarbeit mit den Unternehmen.

Gefördert wird dieser Schritt Richtung Zukunft von der Bundesregierung und dem Land Baden-Württemberg. Die deutsche Industrie will beim Quantencomputing noch einmal ihre traditionellen Stärken in die Waagschale werfen: Innovation anhand sehr konkreter, realer Anwendungsfälle – ohne Science-Fiction-Szenarien aus Tech-Blogs.

Video: Ist die deutsche Industrie gut aufgestellt fürs Quantencomputing? Welche Stärken kann sie hier ausspielen?

Christian Tutschku, Teamleiter Quantencomputing beim Fraunhofer IAO, erklärt, was die deutsche Industrie gut kann.

Natürlich geht es beim Rennen um die Quanten um die üblichen wirtschaftlichen Triebfedern: Standortvorteil, Technologiehoheit, Geschäftsmodelle, Profite. Aber beim Quantencomputer kommt noch hinzu, dass der Mensch sich hier den Fundamenten der Wirklichkeit nähert, wie sonst kaum irgendwo. Das findet zumindest Dr. Birgit Schwarz, die den Bereich Quantencomputing bei IBM Deutschland verantwortet. Wenn sie auf die kleinsten Teilchen blickt, lebt sie – wie alle – mit dem ständigen Widerspruch, dass sie die Vorgänge berechnen und manipulieren, aber nur schwer begreifen kann.

Video: Was ist das eigentlich für ein Gefühl, mit einem Quantencomputer zu arbeiten?

Birgit Schwarz, Leiterin Quantencomputing bei IBM Deutschland, erzählt von ihrer Ehrfurcht.

Doch egal, ob Sie sich dem Quantencomputer mit Ehrfurcht vor den Naturgesetzen nähern oder einfach nur wissen wollen, was man verdammt noch mal damit eigentlich machen kann: In den folgenden drei Abschnitten finden Sie Antworten.

Klicken oder tippen Sie auf das, was Sie am meisten interessiert.

Was kann ein Quantencomputer eigentlich (besser)?

Der Quantencomputer ist inselbegabt – vieles kann er so lala, doch manches dafür millionenfach besser als alle bisherigen Rechner.

Um die Bedeutung des Quantenrechnens für die Industrie zu begreifen, ist es nötig, dieses System ein bisschen besser einschätzen zu können. Denn er basiert auf völlig anderen Prinzipien als herkömmliche Rechner. Hier können Sie kurz die wichtigsten Begriffe und Konzepte nachlesen, um zu verstehen, wie ein Quantencomputer funktioniert.

Die quantenmechanischen Prinzipien verfügen bei einigen Rechenoperationen über gewaltige Macht, haben in der Nutzung aber auch einen Preis: Sogenannte supraleitende Quantenchips, wie sie IBM in Ehningen aufgebaut hat, funktionieren nur, wenn sie stark gekühlt werden. Das heißt in diesem Fall tatsächlich runter auf 15 Millikelvin – also nur knapp über dem absoluten Nullpunkt, der tiefsten, physikalisch möglichen Temperatur von minus 273,15 Grad Celsius. Ein irrer technischer Aufwand, der sich nur für ganz herausragende Leistungen lohnt.

Der Quantenrechner hat im Team mit klassischen Großrechnern oft nur die Rolle eines Akzelerators: Das heißt, er beschleunigt genau die Rechenoperationen, in denen er gut ist und überlässt den Rest den konventionellen Geräten. Und worin ist er denn jetzt gut? Wissenschaftler*innen machen sich schon seit Jahrzehnten darüber Gedanken – lange bevor es überhaupt einen Quantenrechner gab, der eins uns eins zusammenzählen konnte. Drei Felder haben sie identifiziert. Eines davon – die chemisch-physikalische Simulation – ist ein völlig neues. Zwei andere – maschinelles Lernen und Optimierungsprobleme – sind Durchbrüche bei Verfahren, bei denen klassisches Computing an seine Grenzen kommt.

Chemisch-physikalische Simulationen

Wie verhalten sich chemische Mischungen aufs Molekül genau? Wie und wo dockt ein Wirkstoff in der Blutbahn an? Wie laufen komplexe chemische Reaktionen physikalisch ab? All diese Prozesse auf Quantenebene sind in bisherigen Großrechnern nicht simulierbar.

Der Quantencomputer jedoch wird exakt das können. Denn er operiert ja selbst nach den Gesetzen der Quantenmechanik. Darum ist bestens geeignet, Vorgänge auf quantenmechanischer Ebene zu simulieren.

Expert*innen in der Materialforschung, Chemie und Pharmaindustrie sehnen sich schon lange so eine Simulationsmöglichkeit herbei. Schon allein, um aus den zahllosen, möglichen Stoff-Kombination die am wenigsten versprechenden auszusieben. Denn bisher bleibt ihnen nichts anderes übrig als: ausprobieren. Dank der Simulation wird man in Zukunft Arzneien und Impfstoffe viel schneller entwickeln und auf den Markt bringen, weil dann weniger langwierige klinische Versuche nötig sind.     

Hochpräzises maschinelles Lernen

Bei der Künstlichen Intelligenz, genauer: beim maschinellen Lernen, geht es zusammengefasst darum, in einem Wust Daten, Muster zu erkennen.

Von den Qubits und den sie nutzenden Quantensystemen verspricht man sich eine deutlich höhere Genauigkeit in der Mustererkennung: Feinere, bislang unentdeckte Sinnraster kommen so zutage. Während heutige Großrechner erkannte Muster sozusagen in Metern messen, werden Quantencomputer ihre Ergebnisse in Millimetern angeben können. Programmierer*innen werden zunächst die heute schon bekannten Anwendungsfälle maschinellen Lernens verbessern, später aber sicher auch auf ganz neuartige stoßen. Bekannt zum Beispiel sind Anwendungen bei Banken und Versicherungen: Sie lassen auch heute schon Algorithmen über ihre Transaktionen laufen und nach verdächtigen Mustern suchen. Mit dem Quantencomputer wird es beispielsweise möglich sein, viel mehr Fälle von Kreditkartenbetrug aufzudecken und sogar vorzeitig eingreifen zu können.

Komplexe Optimierungsprobleme meistern

Monte-Carlo ist nicht nur der Ort der Reichen und Schönen, sondern auch der Name einer aufwendigen, stochastischen Simulation, also einer mathematischen Methode zur Errechnung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen.

Monte-Carlo-Simulationen sind im Computing der Prüfstein, um zu zeigen, was die neue Kiste kann. Man nimmt sich ein Szenario vor, also eine Gleichung mit richtig vielen Eingangsparametern. Alle Parameter sind veränderlich, die meisten davon haben sogar eine breite Spannweite an Werten, die sie annehmen können. Kurz: Es gibt wahnsinnig viele Kombinationsmöglichkeiten. Auf der Suche nach dem Optimum bleibt klassischen Rechnern nichts anderes übrig, als alle Kombinationen durchzugehen. Das dauert – manchmal sogar Monate oder Jahre. Die Methode nennt sich Brute-Force, ein stumpfes Abrackern.

Ein Quantencomputer geht die Sache eleganter an: Denn er beherrscht den quantenmechanischen Zauber der Superposition und Verschränkung, kann alle Kombinationen aus allen Eingangsparameter gleichzeitig darstellen und hat nach ein paar Minuten die Lösung, so die Vision. Optimierungsprobleme gibt es wie Sand am Strand. Seien es Routen und Beladungspläne von Schiffsflotten, Berechnung von Preisen oder die bessere Zusammensetzung von Portfolien in der Finanzindustrie. Darum ist es in diesem Feld besonders leicht, sinnvolle Anwendungen für Quantenalgorithmen zu finden.

Konkrete Anwendungen – oder: Wie verdient die deutsche Industrie eigentlich Geld mit dem Quantencomputer?

Die kurze Antwort ist: noch gar nicht. Aber deutsche Industrieunternehmen probieren echte Anwendungsfälle aus, um bereit zu sein, wenn’s bald richtig losgeht. Sechs Anwendungen.

Derzeit überlegen viele deutsche Unternehmen, welche echten Probleme ein Quantencomputer für sie lösen könnte und wie sie dadurch lukrativer und wettbewerbsfähiger werden. Sie schicken ihre Informatiker*innen zu Kursen, in denen diese das völlig verdrehte Denken und Programmieren von Quantenalgorithmen lernen. Und schließlich testen gerade rund zwanzig Unternehmen mithilfe des IBM-Rechners, wie es wirklich ist, mit einem Quantencomputer zu arbeiten. Sie wollen bereit sein, wenn das Quantencomputing in den nächsten Jahren so richtig losgeht.

Video: Warum muss die deutsche Industrie jetzt ran an den Quantencomputer und wie macht sie das am besten?

Christian Tutschku, Teamleiter Quantencomputing beim Fraunhofer IAO, über die Fehler der Vergangenheit und die Lehre daraus.

Sechs echte Anwendungen aus Deutschland

Fluiddynamik von Bauteilen verbessern

Wie optimiert man den Fluss von Luft beziehungsweise Flüssigkeit um ein Bauteil herum (Flugzeug, Schiff oder Auto)? Oder innerhalb von Bauteilen, zum Beispiel in Rohrsystemen oder Turbinen? Wo fließt es sauber durch, wo bilden sich Turbulenzen? Mathematisch findet man das heraus, indem man komplizierte partielle Differenzialgleichungen löst. Damit ein Computer das simuliert kriegt, muss man es ihm einfacher machen und die Aufgabe auf leichtere lineare Gleichungen reduzieren. Dadurch entstehen Ungenauigkeiten, mit denen man halt leben muss.

Die Firma Simerics aus Rottenburg am Neckar stellt Software her, um Strömungseigenschaften zu simulieren. Mit einem Quantenalgorithmus wollen sie künftig ihren Kunden Simulationen bieten, mit denen sie den optimalen cw-Wert ermitteln, also die beste vorstellbare Strömungseigenschaft. Und zwar sowohl schneller als auch genauer.   

Nesting – so viel wie möglich aus einem Blech rausholen

Ein Lohnfertigerbetrieb produziert Blechbauteile und hat mehrere Dutzend Aufträge verschiedener Stückzahlen gleichzeitig. Auch die Fertigungsfristen sind bei allen Aufträgen unterschiedlich. Wie schafft er es, dies alles so geschickt zu kombinieren, dass er möglichst wenig Blech dabei verbraucht, sprich: so wenig wie möglich Verschnitt produziert? Ein klassisches Monte-Carlo-Optimierungsproblem mit vielen Variablen, genannt Nesting. Jedes Teil sieht anders aus und beansprucht unterschiedlich viel Platz auf dem Blech. Ungefähr so, wie ein Plätzchenteig mit vielen Stechförmchen zur Auswahl.

Ein Quantenalgorithmus könnte die perfekte Anordnung auf dem einzelnen Blech und die optimale zeitliche Abfolge im Nu errechnen. Die Firma Trumpf aus Ditzingen stellt Stanz-, Biege- und Laserschneidmaschinen her und möchte ihren Kunden in Zukunft helfen, das Optimum aus ihren Ressourcen herauszuholen.

Die besten Produktionsprozesse der Welt: Job-Shop-Scheduling

Ein Werk mit einer oder mehreren Produktionsstraßen: Einige Produkte müssen die komplette Straße in einer ganz bestimmten Reihenfolge durchlaufen, andere nur einen Teil davon und bei der dritten Sorte ist die Reihenfolge nicht so wichtig. Wie organisiert man jetzt die Abfolge durch die Hallen so, dass am Ende die größtmögliche Zahl an Produkten herauskommt mit dem optimalen Einsatz von Maschinen, Ressourcen und Zeit?

Diese Frage des sogenannten Job-Shop-Scheduling stellt sich Unternehmen seit der Industrialisierung. Die Softwarefirma Kumavision aus Oberfischbach beschäftigt sich damit, industrielle Prozesse zu optimieren und sieht im Quantencomputer die Chance, solche Aufgaben noch komplexer zu formulieren und ein nie gekanntes Optimum an Produktivität für ihre Kunden zu erreichen. 

Lkw-Routen planen und nie wieder leer fahren

Zur Schwarz-Gruppe aus Neckarsulm gehören die Supermarktgiganten Lidl und Kaufland. Wie schaffen sie es, ihre Speditionen so zu koordinieren, dass alle Märkte rechtzeitig das geforderte Sortiment anbieten? Logistikprogramme auf konventionellen Rechnern bekommen es hin, die Lkw-Routen so zu berechnen, dass am Ende alle alles haben und eine befriedigend geringe Anzahl gefahrener Kilometer dabei herauskommt.

Aber es geschieht dabei immer wieder, dass Lastwagen leer von A nach B fahren. Und genau darauf konzentriert sich die Schwarz-IT jetzt. Die Leerfahrten loszuwerden – das schaffen herkömmliche Rechner nicht tagesaktuell. Mit dem richtigen Quantenalgorithmus sollte das aber kein Problem sein.

Ladesäulen: Wann soll ich das E-Auto laden?

Die Deutschen sind dabei, immer mehr fossile Energieträger durch Strom zu ersetzen. Der optimale Fluss von Elektrizität durch die Netze ist ein Optimierungsproblem wie geschaffen für die Rechenkraft des Quantencomputers.

Konkret geht die Fraunhofer-Gesellschaft gerade das Projekt LamA – Laden am Arbeitsplatz an. Hier geht es um Ladesäulen für E-Fahrzeuge. Mitarbeitende mit einem E-Gefährt kommen zur Arbeit, schließen es an die Ladesäule an und wenn sie Feierabend machen, soll der Akku wieder voll sein. Der Algorithmus weiß irgendwann, wann welches Fahrzeug mit welchem Akkustand an der Säule steht und für wie lang. Jetzt soll er mit den Lastspitzenzeiten der Infrastruktur errechnen, wann der beste Zeitpunkt gekommen ist, dass die einzelne Ladesäule auf „Strom marsch!“ stellt.

Eine Batterie, wie die Menschheit sie noch nie sah

Lithium-Ionen-Batterien waren einmal ein Leistungs-Durchbruch in der Akkutechnik. Doch schon lange sind bloß noch graduelle Verbesserungen möglich. Mercedes-Benz aus Stuttgart arbeitet jetzt an einem neuen Durchbruch, der die Leistung verdoppeln oder gar vervierfachen könnte. Nicht nur, aber vor allem die E-Mobilität dürfte davon immens profitieren.

Die Ingenieur*innen haben als die heißesten Kandidaten Lithium-Schwefel-Akkus im Blick. Doch das Innenleben des neuen Batteriesystems wäre so komplex, dass es ein Glücksspiel wäre, einfach mal mit einem Prototyp anzufangen und zu schauen, wie es weitergeht. Stattdessen simuliert Mercedes-Benz die molekularen Eigenschaften und Reaktionen der Gemische mit dem Quantencomputer. Erst danach soll der Prototyp entstehen und dem Unternehmen einen Milliardenmarkt eröffnen.  

Wo steht das Quantencomputing derzeit wirklich und welche Aussichten hat die deutsche und europäische Industrie?

Bei allem Hype: Der Quantencomputer ist derzeit noch ein Experiment. Doch die Hardware und Software gedeihen rasant. Und es ist durchaus noch nicht klar, welches Baukonzept am Ende wofür den meisten Nutzen hat.

Derzeit sammeln die deutschen Industrieunternehmen die ersten Erfahrungen, wie es ist, einen Quantencomputer zu programmieren und wie er darauf ganz in echt reagiert. Quantenalgorithmen zu programmieren heißt, ganz neue Rechenparadigmen zu akzeptieren und anzuwenden: der Schritt vom klassischen deterministischen, also festgesetzten, hin zum quantengerechten probabilistischen Rechnen, das auf Wahrscheinlichkeiten beruht, ist groß. Manche Expert*innen sagen sogar, dass es am besten wäre, alle althergebrachten Programmiertechniken zu vergessen und ganz von vorn zu denken. Fraunhofer bietet interessierten Unternehmen bereits Kurse in diesem Denken an.

Doch trotz der Umstellung sollten sich Unternehmen nicht allzu viel Zeit lassen. Denn die Pläne von Herstellern wie IBM sind ambitioniert und deren Vertrauen, sie zu erfüllen, sitzt tief.

Video: IBM sieht seinen Quantencomputer selbst auf dem Niveau der Großrechner der 1960er Jahre. Doch wie schnell und unter welchen Umständen holt die Technik auf, um unentbehrlich zu werden?

Birgit Schwarz, Leiterin Quantencomputing bei IBM Deutschland, schätzt die Entwicklung des Quantencomputers ein.

Bleibt noch die Frage nach der Hardware: Die führenden amerikanischen Hersteller von Quantencomputern wie IBM, Google und Rigetti setzen gerade vor allem auf das Konzept der Supraleiter: extrem gekühlte Chips, in denen Elektronen widerstandslos fließen können. Supraleitende Quantencomputer sind derzeit am ausgereiftesten und werden vermutlich das Rennen um den ersten Quantenrechner machen, der konventionelle Computer übertrifft.

Doch es gibt auch andere Hardware-Konzepte, die andere Eigenschaften haben und sich am Ende für bestimmte Anwendungen als geeigneter herausstellen könnten. Zum Beispiel kann man durch optische Laser-Fallen auch mit Ionen rechnen oder mit einzelnen Atomen in sogenannten Fehlstellen in Diamantkristallgittern. Manche dieser alternativen Konzepte sind unschlagbar bei der Kohärenzzeit oder funktionieren sogar bei Zimmertemperatur, dafür rechnen sie recht langsam. Bei den alternativen Konzepten sind europäische Firmen führend.


Video: Wie wird das Rennen um die Quanten-Hardware weitergehen und was sollte Deutschland tun?

Christian Tutschku, Teamleiter Quantencomputing beim Fraunhofer IAO, sieht auch vielversprechende alternative Hardware-Konzepte beim Quantencomputer.


Video: Zum Schluss ein Traum. Welche Bedeutung hat der Quantencomputer eigentlich für die gesamte Menschheit?

Birgit Schwarz, Leiterin Quantencomputing bei IBM Deutschland, hofft auf neue Antworten auf alte Menschheitsfragen.

Fraunhofer IAO

Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart ist Teil der Fraunhofer-Gesellschaft, die zum Ziel hat, in Deutschland Wissenschaft und Unternehmen zu verzahnen, um anwendungsnahe Forschung zu ermöglichen. Beim Fraunhofer IAO bündeln sich die baden-württembergischen Projekte zur Nutzbarmachung und Förderung des Quantencomputings. Zu diesem Zwecke hat Fraunhofer Europas ersten kommerziellen Qunatencomputer von IBM in Ehningen geleast. Die Projekte werden unterstützt von der Bundesregierung und des Landesregierung Baden-Württemberg.

IBM

International Business Machines Corporation (IBM) mit Sitz in Armonk, New York, ist das weltweit führende Unternehmen in vielen Feldern, wenn es um Computer geht: Computerchips, Cloud Computing, Künstliche Intelligenz, Blockchain, Security – und beim Quantencomputer. Das Unternehmen bietet seit 2015 Zugriff auf Quantencomputer an und entwickelt eine eigene Programmiersprache dafür. Insgesamt hat IBM rund 300.000 Mitarbeiter.


So funktioniert ein Quantencomputer

Ein Quantencomputer rechnet mithilfe kleinster Energieeinheiten: Das sind zum Beispiel geladene Atome (Ionen), Lichtteilchen (Photonen) oder widerstandslose Ströme von Elektronen. Sie alle verhalten sich nach den Gesetzen der Quantenmechanik, die man für Rechenoperationen nutzen kann, die ein klassischer Großcomputer heute nicht bewältigt.

Qubit

In herkömmlichen Computern schalten Mini-Transistoren und lassen Strom durch oder nicht. Sie rechnen daher binär in Nullen und Einsen, also in Bits (Strom an = 1, Strom aus = 0). Die Bit-Folge „01001010“ zum Beispiel steht laut Konvention für den Buchstaben „J“.

Ein Quantencomputer hingegen rechnet quantenmechanisch in Qubits. Qubits sind nicht entweder 1 oder 0, sondern gleichzeitig 1 und 0. Zwei Qubits können also vier Zustände gleichzeitig annehmen, also sozusagen vier „Transistor-Schaltvorgänge“ gleichzeitig durchführen. Drei Qubits repräsentieren acht Bits und 20 Qubits schon über eine Million. Bei 300 Qubits hätten wir 2300 „Schaltvorgänge“ gleichzeitig – das ist eine höhere Anzahl als es Atome im gesamten Weltall gibt!

Auf diesem exponentiellen Wachstum ruht die ungeheure Rechenkraft des Quantencomputers.

Der Computer in Ehningen verfügt über 27 Qubits. IBM will noch 2022 einen Rechenchip mit 433 Qubits präsentieren und in den folgenden Jahren einen mit über tausend Qubits.

Superposition und Verschränkung

Wie ist es möglich, dass ein Qubit mehrere Zustände gleichzeitig haben kann? Quanten haben von Natur aus die Eigenschaft, mehrere Zustände gleichzeitig anzunehmen, ihre Zustände überlagern sich: Sie sind in Superposition. Das ist schwer zu akzeptieren für den menschlichen Verstand, ist aber seit rund hundert Jahren Erkenntnisstand der Physik. Erst wenn der Zustand von außen gemessen wird, „entscheiden“ sich quantenmechanische Teilchen für einen der möglichen Zustände. Vorher „entscheiden“ sie sich zu gar nichts und bleiben unscharf.

Zusätzlich macht man sich eine weitere seltsamer Quanteneigenschaften zunutze: die Verschränkung. Es ist möglich, Qubits zu verbinden, so dass sie miteinander wechselwirken. Technisch passiert das durch bestimmte Mikrowellensignale im Computerchip. Verändert man einen Qubit, reagieren sämtliche mit ihm verschränkte Qubits darauf – und zwar ohne zeitliche Verzögerung und theoretisch über eine beliebig lange Distanz hinweg. So erreicht man, dass nicht nur ein einzelner Qubit vor sich hinrechnet, sondern die Aufgabe mit seinen Kameraden teilt.      

Kohärenzzeit

Die Zeit, in der die Qubits sich ungestört in einem stabilen Zustand der Superposition und Verschränkung befinden, nennt man Kohärenzzeit. In dieser Zeit kann der Quantencomputer rechnen. Beim Ehninger Computer von IBM geht das maximal 0,0003 Sekunden lang. Bevor diese winzige Spanne um ist, muss man messen und die Qubits zur Entscheidung zwingen (Bin ich null oder eins?). Misst man später, kommt nur noch Unsinn heraus.

Neben der reinen Anzahl von Qubits ist die Kohärenzzeit ein wichtiges Kriterium für die Nützlichkeit von Quantencomputern. Je länger sie ist, desto länger kann die Quanten-Rechenoperation sein, bevor ein konventioneller Computer die Daten auslesen und eine neue Rechenoperation starten muss.

Quantenalgorithmus und probabilistisches Rechnen

Quantencomputer werden zwar mit normalen Computern gesteuert, allerdings braucht es dazu sehr spezielle Programmiertechniken und Herangehensweisen: sogenannte Quantenalgorithmen. Die Kunst eines Quantenalgorithmus ist es, die Qubits so anzusteuern, dass am Ende der Rechenzeit in Superposition – also dann, wenn sich der Qubit entscheiden muss, was er sein will – sehr wahrscheinlich das richtige Ergebnis rauskommt. „Wahrscheinlich“ ist hier das Stichwort, denn mit dem Quantencomputer müssen die Programmierer*innen das deterministische Rechnen, bei dem Ergebnisse feststehen, verlassen und zum anspruchsvolleren probabilistischen Rechnen übergehen, wo es um Wahrscheinlichkeiten geht.

Ein Beispiel: Angenommen, Sie haben ein Kartenset mit 52 Karten und wollen die Herzdame finden. Es bleibt Ihnen (wie auch dem deterministisch rechnenden Computer) nichts anderes übrig, als alle Karten durchzugehen, bis die Herzdame auftaucht. Der Quantencomputer hingegen kann sich in Superposition alle 52 Karten gleichzeitig anschauen. Mit den richtigen Algorithmen müssen Sie dann aber die Qubits dazu bringen, die 51 falschen Kartenpositionen auszublenden und die Herzdame nach und nach einzublenden und sie so „wahrscheinlicher“ werden lassen.

IBM-Quantencomputer in Ehningen

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„Unternehmen erreichen mehr als Regierungen“ https://sechsnull.de/nachhaltigkeit-und-co2-preis-im-interview-mit-anja-kern-von-dhbw-moosbach/ Tue, 21 Dec 2021 14:39:44 +0000 https://sechsnull.de/?p=5066 Prof. Dr. Anja Kern, Stiftungsprofessorin für Handel und Führung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Mosbach, erklärt im Interview, wie Unternehmen mit einer globalen CO2-Gebühr das Klima retten können.

Prof. Kern, was ist Nachhaltigkeit?

Das weiß niemand so genau. Es gibt keine einheitliche Definition.

Wie messen Unternehmen dann ihre Nachhaltigkeit?

Es gibt Vorgaben innerhalb der EU, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe Nachhaltigkeitsberichte verfassen müssen. Aber es gibt keinen einheitlichen Standard darüber, was Unternehmen berichten müssen.

Wie verfassen sie die Berichte dann?

Es existieren verschiedene Nachhaltigkeitsstandards und Unternehmen können sich frei entscheiden, welchen Berichtstandard sie umsetzen. Sie können auch eigene Ansätze entwickeln, die besser zu ihrem Geschäftsmodell passen oder ihnen erlauben, ihr Alleinstellungsmerkmal zu unterstreichen. Daher sind Vergleiche zwischen Unternehmen bisher schwierig.

Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Wie sieht im Jahr 2030 erfolgreiches, nachhaltiges Wirtschaften aus?

Manager werden bis 2030 gelernt haben, die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit Ökonomie, Ökologie und Soziales zu berücksichtigen. Also die ökologische, soziale und ökonomische Wertschöpfung zusammen zu denken und in Geschäftsmodellen umzusetzen. Die Nachhaltigkeit wird sich dann durchsetzen, wenn Gewinnziel und Nachhaltigkeitsziel Hand in Hand gehen. Das funktioniert nur, wenn sich die Rahmenbedingungen der Wirtschaft ändern.

Welche Rahmenbedingungen meinen Sie?

Die natürlichen Ressourcen unserer Erde müssen teurer werden. Luft, Wasser, Rohstoffe müssen so teuer werden, dass es sich nicht mehr lohnt, ein Produkt zu kaufen und es einfach wegzuwerfen, wenn es defekt ist. Es soll sich lohnen, Produkte zu reparieren. Sie an andere weiterzugeben, wenn man keine Verwendung mehr für sie hat. Oder einzusammeln und neu auszustatten. Einen neuen Verwendungszweck für das Produkt zu finden, wenn es seinen ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllen kann. Unternehmen wie die amerikanische Outdoor-Marke Patagonia sind sehr erfolgreich mit ihrem nachhaltigen Geschäftsmodell: Sie bieten unter anderem an, defekte Kleidung zu reparieren oder zu recyclen.

„Die EU-Taxonomie sehe ich als problematisch an.“

Anja Kern

Wie können solche Geschäftsmodelle zum Normalzustand werden?

In seiner großen Breite wird sich das Konsumverhalten außerhalb der ohnehin umweltbewussten Bevölkerung erst ändern, wenn nachhaltiger Konsum preiswerter wird als nicht-nachhaltiger Konsum. Staaten müssen Subventionen in braune Industrien, wie die Kohleindustrie, einstellen und stattdessen grüne Investitionen fördern.

Ab 2022 gilt die EU-Nachhaltigkeitstaxonomie. Sie klassifiziert, ab wann sich ein Unternehmen „grün“ nennen darf. Wie stehen sie dazu?     

Die EU-Taxonomie teilt Unternehmen nicht streng in „grün“ und „braun“ ein, sondern klassifiziert sämtliche Wirtschaftsaktivitäten innerhalb eines Unternehmens in „grüne“ und „braune“ Aktivitäten. So sollen Unternehmen die Chance bekommen, sich zu wandeln und nachhaltiger zu werden. Der Gedanke funktioniert in der Theorie, die Umsetzung jedoch sehe ich sehr problematisch.  

Wieso ist die Umsetzung problematisch?

Es ist ja ein Berichtstandard. Er zielt darauf ab, sämtliche Unternehmensaktivitäten über Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Investitionen in grün und braun zu klassifizieren und dann zu kommunizieren. Das bedeutet einen erheblichen Aufwand für die Unternehmen: Sie müssen tief in die Materie einsteigen, sich mit Kriterien auseinandersetzen, um einzelne Vorgänge im Unternehmen zu erfassen. Es fehlen oft Kapazitäten und Kompetenzen, Unternehmen müssen daher externe Beraterfirmen beauftragen, die ihnen bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen sollen. Die werden sich über die vielen Aufträge freuen (lacht).

Viele Kriterien sind nicht praktikabel, weil die Informationen nicht vorliegen. Dies wird dazu führen, dass die Taxonomie unterschiedlich umgesetzt wird und die Vergleichbarkeit der Unternehmen darunter leidet. Auch innerhalb der EU wird es zu Problemen kommen.

Welche Probleme?

Es gibt grundsätzliche Diskussionen über die Klassifizierungskriterien auf EU-Ebene. Ist Atomkraft grün oder nicht? Manche Länder wie Frankreich oder Finnland wollen das befürworten, weil dadurch weniger CO2 ausgestoßen wird. Andere wollen im Gegenzug Erdgas als grün klassifizieren. Diese Diskussionen tragen nicht dazu bei, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Anstatt über Klassifizierungskriterien der Taxonomie zu streiten, sollte die EU an einer Strategie arbeiten, die zielführend ist, die CO2-Emissionen tatsächlich zu senken. Außerdem gilt die Taxonomie nur in Europa, und hat aufgrund ihrer Komplexität wenig Aussicht darauf, global umgesetzt zu werden. Wir brauchen aber globale Lösungen, um das Klima zu retten.

„Über die CO2-Gebühr entsteht ein neuer Wettbewerb“

Anja Kern

Was können Unternehmen tun?

Das dringendste Problem ist der CO2-Ausstoß. Wir brauchen einen weltweit standardisierten CO2-Bericht, damit Unternehmen ihren CO2-Ausstoß erfassen. Unternehmen könnten sich in einer Initiative zusammenschließen und dafür eintreten. Unternehmen der Initiative könnten auch für die Gründung eines Instituts eintreten. Diesem Institut sollten Nichtregierungsorganisationen, Regierungsvertreter und Wissenschaftler angehören, die zusammen an weiteren Lösungen, wie einer globalen CO2-Bepreisung arbeiten. Diesen Vorschlägen könnten sich dann Regierungen weltweit anschließen.

Wie lässt sich die CO2-Bepreisung weltweit durchsetzen?

Unternehmen sind globale Akteure. Wenn sich die großen Player, also eine kritische Masse von Unternehmen, zusammenschließen und einen CO2-Berichtsstandard und einen globalen CO2-Preis fordern, könnte dies den Weg zu einer globalen Lösung erheblich erleichtern und Regierungen dazu bewegen, dieser Lösung zuzustimmen.

Wenn weltweit eine CO2-Gebühr beschlossen wird, werden die Preise steigen. Und das landet wiederum bei den Endverbrauchern, richtig?

Natürlich, denn wir als Gesellschaft sind auch verantwortlich. Das ist unser Konsum. Das ist der Preis, um unsere Erde zu retten. Natürlich werden viele Produkte erstmal teurer werden. Die CO2-Gebühr sollte direkt beim Endkunden erhoben werden, damit sie eine Konsumänderung bewirken kann. Da bei manchen Produkten der CO2-Durchschnittswert bereits bekannt ist – also wieviel CO2 im Durchschnitt bei Produktion und Nutzung anfällt – kann man diese Zahlen als Basis nehmen, um einen globalen CO2-Aufschlag für diese Produktart zu definieren. Wenn ein Unternehmen in seinem CO2 -Bericht aufzeigt, dass es signifikant unter dem CO2-Durchschnitt liegt, sinkt der auferlegte CO2-Aufschlag. Damit wird das Produkt für den Kunden preiswerter.

„Natürliche Ressourcen müssen teurer werden.“

Dann wird es sich lohnen, nachhaltig zu sein. 

Genau. Es entsteht ein neuer Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Denn sie müssen ihre Geschäftsmodelle anpassen, mehr in Nachhaltigkeit investieren, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wir brauchen Innovationen und neue Technologien in der Wirtschaft, aber auch das reicht nicht um den Klimawandel aufzuhalten. Es ist fünf nach 12: Was Teil der Lösung sein wird, ist verzichten.

Verzichten?

In einigen Bereichen müssen wir unseren Konsum ändern, in manchen werden wir uns einschränken müssen. Wir können unseren CO2-Verbrauch senken, indem wir auf Elektrofahrzeuge umsteigen oder unsere Ernährung umstellen, zum Beispiel weniger Rindfleisch essen. Auch Franzosen müssen dann ihre Ernährung ändern, selbst wenn der Atomstrom grün klassifiziert wird (lacht).

Wir müssen aber auch verzichten, wie beispielsweise auf Flugreisen. Unsere Generation muss ihren Beitrag leisten, damit zukünftige Generationen die Möglichkeiten haben, die für uns bisher selbstverständlich waren. In vielen Sektoren haben wir bereits nachhaltige Lösungen, wie im Energie-, und Gebäudesektor zum Beispiel. Die müssen wir nur umsetzen.

Zur Person

Anja Kern ist Leiterin des Studiengangs Internationaler Handel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Mosbach. Ihre akademische und berufliche Laufbahn führte sie unter anderem nach Paris, London und den Mittleren Osten. Sie arbeitete in verschiedenen internationalen Unternehmen und setzte sich wissenschaftlich mit dem Wertbegriff im Gesundheitswesen auseinander. Heute beschäftigt sie sich mit Nachhaltigkeit im globalen Kontext.

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Lasst Daten fließen https://sechsnull.de/reportage-all-electric-society-iot-von-phoenix-contact/ Tue, 06 Apr 2021 09:04:01 +0000 https://sechsnull.de/?p=4101

All Electric Society. Das ist die Vision der lippischen Elektro- und Automatisierungstechnikerinnen von Phoenix Contact. In ihrem schlauen Gebäude lässt sich erleben, was es dafür braucht: Menschen, die schon heute elektrisiert sind. Und Daten, die im Hintergrund stetig strömen.

Wenn es um die Zukunft geht, sind Visionen schnell zur Hand. Vollmundige Versprechungen werden gemacht, science-fiction-artige Bilder bemüht. Wie heiß die Luft ist, aus der die Schlösser gebaut sind, kann ja niemand prüfen. Nicht so bei Phoenix Contact: Das Unternehmen mit Hauptsitz im nordrhein-westfälischen Blomberg sieht am Horizont die All Electric Society, die komplett elektrische Gesellschaft, deren Hauptenergieform die regenerativ erzeugte Elektrizität ist. Das wäre gut fürs Klima und für die Teilhabe. Denn wenn klar ist, wann wo wie viel Energie gebraucht wird, lässt sie sich gezielt einsetzen und einsparen. In Wohnungen, in Gebäuden, in Städten, Ländern, weltweit. Essenzielle Bausteine für die Realisierung: Vernetzung und Automatisierung.

Aus diesen Bausteinen ist das Gebäude namens Building Internet of Things (IoT) am Unternehmensstandort in Bad Pyrmont errichtet. Eingebettet in die sanften Hügel des Bad Pyrmonter Ortsrands sieht das Gebäude 4 aus, wie ein modernes Bürogebäude auszusehen hat: viel Glas, viel Weiß, etwas Grau. Schick. Ein Rasenmäherroboter zieht seine Kreise vor dem Haupteingang, Ladestationen für E-Autos stehen bereit, selbstverständlich mit Steckern von Phoenix Contact. Aber Automatisierung, Vernetzung, IoT? Wo werden sie sichtbar?

All Electric und so grün: Das Building IoT ist die Bürogebäude gewordene Vision von Phoenix Contact.
Er kann in die Zukunft sehen: Frank Schröder hat den Überblick über das Building IoT in Bad Pyrmont.

Wer in die Zukunft blicken will, braucht einen, der sie lebt. Einen wie Frank Schröder. Seit 34 Jahren arbeitet der 51-Jährige bei Phoenix Contact, stieg vom Azubi für Betriebstechnik zur Führungskraft auf. Schröder lebt nach dem Motto: „Was wir nicht aufhalten können, sollten wir beschleunigen.“ Er nahm schon 2013 an einer E-Auto-Rallye teil und spricht in Hashtags, wenn ihm etwas wichtig ist. Eines seiner Lieblingswörter ist „Change“. Er ist auf sämtlichen Sozialen Medien zuhause, spricht in seinem Wohnzimmer mit Alexa, steuert seine Kaffeemaschine via App. Als Head of Facility Management ist Schröder verantwortlich für das Building IoT und damit so etwas wie der Zukunftsbotschafter für Phoenix Contact.

Innen schlau

„Von der Beleuchtung über die Klimatisierung bis zum Catering ist hier alles automatisiert“, sagt Schröder mit weiter Geste in das Besprechungszimmer hinein, das seine Intelligenz nicht auf den ersten Blick preisgibt. Woran soll man schon erkennen, dass die Beleuchtung automatisch angeht, sobald der Raum benutzt wird, dass die Leuchtmittel Bescheid geben, sollten sie demnächst ausgetauscht werden müssen, dass die volle Kaffeekanne rechtzeitig und automatisch storniert worden wäre, hätte das Treffen nicht stattgefunden?

Um das sichtbar zu machen, braucht es die App MyEmalytics. Durch sie weiß Schröder jederzeit und überall über alle Gewerke im Building IoT Bescheid. Er kann sehen, wann jemand auf einem der Sofas sitzt, weiß um die Feuchtigkeit der Blumenerde und die Nutzungsfrequenz der Toiletten, kennt den Füllstand der Kaffeebohnen, der E-Autos, der Mülleimer. Dabei ist es in vielen Fällen gar nicht nötig, dass der Facility Manager den Überblick hat. Denn wenn der Mülleimer voll ist, weiß das auch der Reinigungsroboter und leert ihn immer zum besten Zeitpunkt. Putzen, nur weil’s an der Zeit und nicht, weil es nötig ist, ist hier passé: Das übernimmt der kleine Wischroboter, der sich auch den Aufzug selbst ruft.

Klingt putzig, ist aber für die Firma von enormem Nutzen. „Wir haben das Gebäude upgedatet, und können das immer wieder tun. Es wird niemals alt werden“, sagt Schröder über das Building IoT, das 2017 eingeweiht wurde. Durch die Automatisierung hat Phoenix Contact circa 50 Prozent weniger Betriebskosten – obwohl der Bau nicht teurer war, als der eines vergleichbaren Gebäudes. „Uns geht es nicht um Spielereien. Und uns geht es schon gar nicht darum, Menschen verzichtbar zu machen. Unser Ziel ist der bedarfsgerechte Einsatz von Energie und Ressourcen, kurz: Betriebskosten runter, Nutzerkomfort hoch.“

„Uns geht es nicht darum, Menschen verzichtbar zu machen. Unser Ziel ist der bedarfsgerechte Einsatz von Energie und Ressourcen, kurz: Betriebskosten runter, Nutzerkomfort hoch.“

Frank Schröder, Head of Facility Management

Mit dem Aufzug, der unterwegs dem Licht im fünften Stock mitteilt, dass es gleich anzugehen hat, gelangt man zur Photovoltaik-Anlage auf dem Dach. „An einem schönen Sommertag produziert sie mittags um 12 Uhr 160 kW“, erklärt Schröder. Der gesamte Phoenix-Contact-Standort in Bad Pyrmont verbraucht allerdings sogar an einem Sonntag, an dem keiner da ist, 300 kWh. Deshalb gibt es noch eine zweite Energiequelle: ein Blockheizkraftwerk, das 60 bis 70 Prozent des Stroms und die Wärme für den Standort produziert. Wo wann wie viel Strom aus welcher Quelle gebraucht wird, sieht Schröder auf der App. Sie ermöglicht auch externen Besuchern oder Installateuren den Blick hinter die Kulissen: Der digitale Zwilling der Lüftungsanlage erleichtert die Wartung, die Heizungsanlage gibt auf den Scan des QR-Codes hin ihre Daten preis.

Die Grundlage für die umfassende Automatisierung und Vernetzung: Daten, Daten, Daten. Damit Emalytics die Daten aller Gewerke nutzen kann, bringt es diese in ein einheitliches Format und legt sie in der Phoenix-Contact-Cloud ab. Jeder Datenpunkt steht dann dem kompletten System zur Verfügung. „Durch die verschiedenen Protokolle war es früher so, als spräche ein Gerät Französisch und das andere Chinesisch. Wir haben hier ein Produkt kreiert, das übersetzen kann. So sprechen alle Geräte in der Liegenschaft in derselben Sprache miteinander“, erklärt Schröder.

Mehr Denkweise als Technologie

Einat Ditze, die Produktverantwortliche für Building Technologies, findet es wunderbar, dass technisch alles möglich ist.

Dafür, dass das funktioniert, sorgt ein Team in Dresden. Das steht hinter der Soft- und Hardware von Emalytics. Die Klemmen, die im Schaltschrank Signale der einzelnen Geräte empfangen und weiterleiten, entstehen hier, ebenso wie die Plattform, die weiß, wie sie die Daten nutzt. Emalytics ist für das circa 20-köpfige Team mehr als ein IoT-basiertes Gebäudemanagementsystem. Einat Ditze, Produktverantwortliche für Building Technologies, sagt: „Emalytics ist für uns eine Denkweise: Alle Technologien sollten so eingesetzt werden, dass sie uns das Leben und Arbeiten erleichtern. Emalytics steht für Flexibilität und Offenheit.“

Ditze meint damit, dass es für Emalytics irrelevant ist, für welche Geräte sich die Kunden entscheiden – Emalytics lässt sie alle miteinander kommunizieren. „Wir leben in der wunderbaren Situation, dass technisch alles möglich ist. Wir müssen es nur zu nutzen wissen.“

Das Schlüsselprodukt dafür ist der ILC 2050 BI, ein Smart-Building-Controller, der hunderte von Protokollen selbst integriert und zusätzliche Gateways obsolet macht. Ob Kunden ein neues Gebäude von vornherein automatisieren wollen oder einen Retrofit im Sinn haben: „Unsere Devise lautet: Wir machen es möglich. Wir brennen für unsere Arbeit“, sagt die gebürtige Israelin, die 2012 von ihrer ehemaligen Arbeitsstätte in New York nach Dresden kam.

Gegenwärtig sind es noch Industriekunden, die ihre Gebäude automatisieren. Doch Steffen Mehnert, Leitender Produktverantwortlicher für Building Technologies bei Phoenix Contact und damit zuständig für das Dresdner Gebäudeautomationsteam, ist überzeugt, dass sich das ändert: „In Zukunft wird es keine Gebäude mehr ohne Automation geben. Sie werden klimaneutral sein und müssen immer höheren Ansprüchen an Funktion und Komfort genügen. Das ist nur durch ganzheitliche Automation zu erreichen. Die Herausforderung besteht in der Beherrschung der Komplexität. Dafür gibt es zwar noch kein Patentrezept, aber wir arbeiten daran.“ Bei Phoenix Contact ist man sich einig: In naher Zukunft sind auch unsere Wohnungen schlau.

Steffen Mehnert führt ein 20-köpfiges Team, um „coole Lösungen für die Gebäudeautomation der nächsten zehn Jahre“ zu finden.

„Wir erleben gerade einen riesigen Change-Prozess zu einer digitalisierten Welt“, sagt Schröder. Seine Zugewandtheit zur Zukunft im Heute ist zwar intrinsisch, doch auch er braucht Impulsgeber für regelmäßige Updates. Bei Schröder sind es seine vier Kinder. „Als ich für meine Fotos eine Festplatte kaufen wollte, fragte mein Sohn, warum ich sie nicht in eine Cloud lege. Jetzt kann ich sie immer und überall anschauen – und ich zucke beim Stichwort Cloud nicht mehr zusammen wegen vermeintlicher Unsicherheit.“

Die Sorgen um die Sicherheit der Daten kann Phoenix Contact den Kunden nehmen: Beim Tochterunternehmen Cyber Security mit Sitz in Berlin-Adlershof entwickeln circa 70 Mitarbeitende den unhackbaren Schutz für die Cloud. Phoenix Contact erwarb die Firma 2008 – zu einer Zeit, in der viele noch gar nicht an so etwas dachten.  

Im Vorrausschauen liegt offenbar die Stärke von Phoenix Contact. Anders kann aus einem Klemmenhersteller kein Anbieter von Automatisierungslösungen mit 18.000 Mitarbeitenden werden. „Unser ehemaliger geschäftsführender Gesellschafter Klaus Eisert hat gesagt, das Geheimnis seines Erfolges sei, dass er viele Dinge zulasse“, erzählt Frank Schröder und lässt den Blick durch die Empfangshalle des Buildings IoT gleiten. „Diese Unternehmenskultur haben wir noch immer.“ Dass Phoenix Contact aus einer Vision Wirklichkeit werden lässt, liegt nicht am Schauen, sondern am Machen. Oder vielmehr: Am Macher und Macherinnen machen lassen. 

Keine Spielerei, sondern wichtiges Werkzeug: Wer die Augmented-Reality-Brille trägt, erfasst mit einem Blick alle relevanten Daten.

Aufgrund der Daten in der Cloud weiß der Aufzug, wann er am wenigsten benutzt wird. Dies ist ein guter Zeitpunkt für den nächsten Wartungstermin.

Auf 18.000 Quadratmetern demonstriert Phoenix Contact in diesem Gebäude 4 in Bad Pyrmont, was Gebäudeautomation heißt.

Technologie, die Arbeit abnimmt und Leben leichter macht: Der Putzroboter im Building IoT kennt den Füllstand des Mülleimers und holt sich selbst den Fahrstuhl.

Phoenix Contact

Phoenix Contact weiß: Zukunft braucht Herkunft. Das Unternehmen, das heute weltweit über 17.000 Menschen beschäftigt, entsprang 1923 dem Gründergeist Hugo Knümanns in Essen. Mit der innovativen Reihenklemme im Gepäck ging’s wenig später nach Blomberg, wo nach wie vor die Zentrale sitzt, vor allem aber hin zu einer beachtlichen Produktpalette: Phoenix Contact stellt über 60.000 Produkte für die Verbindungs- und Automatisierungstechnik her, die beispielsweise die Verkehrsinfrastruktur, die Elektromobilität, regenerative Energien und den Maschinen- und Anlagenbau voranbringen.

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Light against Viruses – 1:0 https://sechsnull.de/osram-in-future-with-uv-c-light-against-viruses/ Thu, 07 Jan 2021 10:18:14 +0000 https://sechsnull.de/?p=3972 An OSRAM develop­ment team has created light that does not actually exist on Earth, and is using this UV-C light to disinfect surfaces, air and water. The recipe: Take an LED and add some highly special­ized know-how and the courage to think outside the box.

What if you could disinfect the air in a room simply by switching the lights on for ten minutes? Or place a cell phone in a box for a few minutes to kill all the germs on it? It may sound futuristic but it’s already reality. This is dis­infection with short-wave ultraviolet radiation – UV-C light.

UV-C radiation doesn’t actually exist naturally on Earth. It is absorbed by the ozone layer before it can reach us. Which is a good thing because short-wave light has such high energy that it can break the chemical bonds in an RNA or DNA helix. Genetic information is destroyed as a result. This has the positive effect that viruses or bacteria cannot multiply and will no longer be infectious. So UV-C light is a highly promising tool for successful disinfection.

But this radiation not only destroys the cells of viruses and bacteria, it can cause serious damage to our skin or eyes. Contact with UV-C light is dangerous, so protective clothing is essential.

Systems that use light to purify the air are currently equipped with conventional gas discharge lamps as the light source. They do, however, have a crucial disadvantage in that mercury can leak out if they break, making them unsuitable for mobile applications except in certain specific circumstances. Unlike the light emitting diode, or LED for short. The LED is small, versatile, durable and vibration-resistant – and it can emit UV-C light. A germ killer you can take anywhere is therefore tantalizingly within reach. The challenge right now can be summed up in one word: efficiency. At just four percent, the UV-C LED still has plenty of room for improvement here. And that is precisely the focus of the OSRAM team.

Developers at OSRAM are working on a breakthrough. A task that requires creativity, perseverance and an acceptance that there will be setbacks. And a particularly exciting task for the team.

Who is behind the technology?

High-tech needs people. And these people need high-tech. See for yourself who the creative minds are behind the technology of the UV-C-LED.

Hans-Jürgen Lugauer:

makes semiconductors emit light

Lugauer is a physicist and Senior Manager in Predevelopment at Osram Opto Semiconductors

Hans-Jürgen Lugauer is used to setbacks. “If you can’t deal with setbacks then predevelopment is not the place for you”, he says. Lugauer knows what he is talking about. After all, he has been working at Osram since 1999. It was his first and only job application after completing his doctorate at the University of Würzburg, and for Lugauer to this day it’s a perfect match.

“I love this job. It’s great fun and suits me just fine. Obviously, there are times when things don’t go so well and after investing lots of time and effort I have to start all over again. I have to be able to deal with that.” But he couldn’t imagine it any other way: „I don’t want to do anything if I don’t know why I’m doing it. A routine job would not be for me – I need a certain challenge.” After working on the development of LEDs for the visible spectrum, his challenge now is to develop LEDs that emit UV-C light.

The fun of cracking a hard nut

Lugauer’s tasks have changed over time. He is now to be found more at his desk than at a laboratory bench. Does he miss the hands-on approach? “Yes, I really miss that. I keep getting the itch to do something actively myself. But I try to stay as close to the technology as possible so that I can still understand problems in great detail. A management job pure and simple without a technical connection would not be for me,” he added.

“I try to stay as close to the technology as possible so that I can understand problems in detail.”

Whenever it gets really tricky, he likes to take a little time-out alone to get to grips with what it’s all about – and then discuss his thinking with the team. Without this interaction with his colleagues he would not be able to move forward. It’s one of the most important elements of his work.

He likes the creative collaboration that is possible and indeed essential in predevelopment. “I’m creative, and that goes hand in hand with being a little unstructured. I’m working hard to keep this within limits,” he admits with a laugh.

Lugauer laughs a lot – even at work: “It’s important to me that we retain a sense of humor. We laugh a lot, even at normal everyday things. It’s something that motivates me and my colleagues. If I didn’t have fun, I wouldn’t be happy.”

Light with social relevance

Together with this motivated team, he now creates light that renders viruses harmless. That gives his work another special meaning, as he explains: “It feels good that small, mobile devices with UV-C light will soon be able to disinfect the air in a room, for example in hospital wards, so that fewer people die from bacterial and viral infections. We are developing something really relevant for society here. With our UV-C-LED we can replace the mercury lamps that have been used so far. That would be a huge leap forward for the health of the population and for the environment. That gives me a really good feeling.”

The Basis: 

the semiconductor crystal

Aluminium gallium nitride (AlGaN) is the basis for UV-C light. This semiconductor crystal is a compound of aluminum, gallium and nitrogen. This means that UV-C-LEDs are fundamentally different from blue LEDs, on which the commercially available white LEDs are based. The compound for blue LEDs is indium gallium nitride (InGaN). To achieve UV-C light the developers replaced the indium with aluminum. Sounds simple but it’s not, because the two compounds have different material properties. Which means that AlGaN behaves completely differently from InGaN. As a result, new development and manufacturing processes are also needed.

Shine on you crazy crystal

The big challenge is to make the material emit light. That’s not something it does by itself. The AlGaN semiconductor is a very good insulator even at room temperature. This essentially non-conducting material only becomes a conducting material through the selective addition of atoms. This process is called epitaxy. In the chemical deposition process, the raw materials are transferred to a reactor in gaseous form where they react with each other under extremely high temperatures of well over 1,100 degrees Celsius on a suitable layer known as a substrate.

The conventional silicon used in the semiconductor world is unsuitable as a substrate because the grid spacings of the two crystals differ too much and UV-C radiation is absorbed. In most cases, aluminum oxide (Al2O3), also known as sapphire, is therefore used for blue, green and white LEDs based on InGaN. Sapphire is also the substrate of choice for producing UV-C light in the case of aluminum gallium nitride because its physical properties match very well with those of the semiconductor. It is also transparent for UV-C radiation.

Wafer thin

The epitaxial process itself is largely the same as in the production of conventional LEDs. Well over one hundred wafer-thin layers are deposited one on top of the other. The most important ones, the so-called “quantum wells”, are thinner than ten atomic layers. However, a lot of theoretical work is needed to ensure that the LED emits the short-wave UV-C light at the correct wavelength of 260 to 280 nanometers. The layer structure is complex, and the interactions between the layers are also complex. How exactly they interact with each other is only known when the chip is ready, but their thickness and composition are determined in advance on a theoretical basis in order to obtain the best possible result.

Finally, everything comes together. The first step is to create a buffer layer, then the active LED layers and finally a contact layer is applied. At this point, relatively fine adjustments can be made to the wavelength of the light. The key is the ratio of aluminum and gallium in the active LED layers.

Troubleshooting with an atomic force microscope

Questions and fresh challenges arise again and again during the fabrication process. Here’s a good example: As soon as the LED structure is built up layer by layer as far as the contact layer it already emits some light, but not enough. The search for a means of adjustment begins. Is the selected structure the best one? Where are the compositions wrong? Where do structures need to be removed or added to make improvements? Where are electrons being lost?

To search for the fault an atomic force microscope may be used to minutely scan the surface of the buffer layers and make the atomic structures visible. Are they smooth or rough? Are there holes or defects caused by particles?

X-rays also show how the layers are composed and where the tensions between them lie. The LED layers are tested for their conductivity. Depending on how well the layers conduct, the developers can tell whether they are on the right track or whether they need to rethink the layers and their composition. Again and again, this means taking one or more steps back or even starting again from scratch and rethinking everything.

Chips no bigger than a grain of sand

This also applies to the next step – chip processing. The wafer produced in the epitaxy process is structured, provided with metal contacts and then divided into small cubes, the chips. The tiny crystals, no bigger than a grain of sand, must be cut out of these wafer. They are the ones that will later emit UV-C light.

As things stand today, however, they do not yet do this efficiently enough. Whereas blue LEDs can achieve an efficiency of well over 60 percent, UV-C-LEDs currently only manage about four percent. For developers, this is still the hardest nut to crack.

Alexander Wilm:

is building a house for the LED

Wilm is a graduate in mechatronics and Senior Key Expert Applications at Osram Semiconductors

Alexander Wilm needs a challenge. He feels most comfortable in unknown territory: “I like to work on topics that are new to me and help shape future technologies. And as soon as everyone else is doing the same thing, I go looking for something new again,” he says with a smile. Fortunately, there has always been plenty to keep him occupied at Osram in the last 16 years. The LED has accompanied him throughout, or rather he has accompanied the LED – in car headlamps, cell phones, projectors, greenhouses and street lamps. Including a two-year stint in Singapore.

He says he has therefore never had a reason to move to a different employer. Instead, there has always been much to discover and bring to fruition. Like now with the UV-C-LED for disinfection. In Application Engineering, Wilm is the interface between development and the customers. In other words, he discusses concepts and prototypes with a customer and takes the customer’s wishes and requirements back to his colleagues to then work out with them whether they are feasible.

Just spinning around

He likes the mix: “For me, the working environment here is incredibly good and creative. I need an environment in which I can think freely and that’s what I’ve got here. Anyone who wants to develop high-tech solutions needs the space to freely spin things around and around.” That’s precisely what he can do so in special creativity workshops. “The aim is to escape from evolutionary development and create something completely new. Take a completely different approach.”

“We have to escape from evolutionary development and create something completely new. Take a completely different approach.”

You should not be afraid to make mistakes, and you should have the courage to engage in a free and frank dialog: “I’m a fan of talking through problems. If something isn’t working you have to say so without hesitation. At the end of the day, we can learn a lot from that.”

Taming light

The evening is Wilm’s favorite time for tackling tricky problems: “Whenever I need to get to grips with a topic, I usually find a quiet time in the evening away from work,” he says. Sometimes he thinks about the responsibility of developing the UV-C-LED. “The technology is not exactly harmless. The LED needs to be used responsibly. Control mechanisms and sensor systems will help us. Even here there are plenty of possibilities and plenty of work to do,” says Wilm.

He is convinced that the LED will keep him busy in this and other applications for a while. “I believe that we are only just starting to appreciate what the LED as a light source can do, as it is so versatile and universal. There are so many new ideas and concepts to explore. It would be fun for me to journey into more of this uncharted territory.”

Well protected:

the package


A chip by itself is extremely delicate. It needs protection, and that protection is known as a package. The package has a number of functions. It provides the electrical connection to deliver power to the LED. It also ensures that a placement machine can pick up the LED and place it on a pcb without damaging it. At the same time, it performs optical functions. With a small reflector in the package, it is possible to direct the light or radiation.

Hot stuff

Thermal management plays an important role in the design of the package. Because the hotter an LED gets, the faster it ages. Only four percent of the electrical energy that is fed into the LED is emitted as UV-C radiation, the rest is power loss – and that generates heat. This means that the package has to remove as much heat from the chip as possible. The better it can do this, the cooler the chip stays and the longer it will last. This is a critical point for the development process because a larger package, for example, will lead to better heat dissipation, but larger often means more expensive.

Developers simulate whether and how well thermal management will work before they build prototypes. They begin this process with very broad brushstrokes, exploring different concepts. Finite element methods help them to assess the effects of material interactions. The 3D element to be computed is broken down into smaller elements which are then analyzed for their physical behavior. This is important because the individual materials that make up the package have different coefficients of expansion. This leads to internal tensions as the temperature rises. Simulations can determine whether the connection points will withstand these tensions so that design solutions can be found if necessary. Small features such as angled or rounded edges often influence how well tensions can be mitigated.

Shaping the light

Depending on the application in which the UV-C light is to be later used for disinfection, the emission characteristics also have to be tailored. Among other things, the emitted light can either be fanned out widely or bundled tightly. If, for example, water or air passing over the LED is to be purified, it is advisable not to closely cluster the radiation source but to distribute it along a water or ventilation pipe so that the medium is uniformly irradiated. In contrast, disinfection of water at a faucet or objects in small portable boxes requires significantly smaller and concentrated flows of radiation. This can be achieved through the design of the package.

Rethinking is also the order of the day when it comes to selecting the materials for the package. Simply adopting the materials used for conventional LEDs will not work because the plastics and organic encapsulation materials used for those LEDs would decompose due to the high-energy radiation of the UV-C light. So developers look for materials that will produce a stable, solid and durable package. Ceramics, glass and metalized foils have proved their worth to date.

Test to failure

If a package variant seems promising in the simulation it will be built as a prototype and must survive destructive testing. In this test, the package is subjected to increasing loads until it fails. It is exposed to significantly more sever operating conditions and loads than would occur in the real environment. Endurance tests reveal whether joints are deteriorating and how the material is aging. This in turn allows conclusions to be drawn about the life of the LED.

Once all the requirements have been defined and the package has been designed, the production department will check whether the package can be produced in large quantities. If so, that signals the end of the development project and the start of series production.

André Köhler:

switches on UV-C light

Köhler is Global Product Manager Airfield, Medical, UV at OSRAM DI Industry

André Köhler wanted to study at the Film and Television College in Babelsberg because he had always been fascination by the cinema and movie production. Instead, he studied economics, sociology and psychology. But he never lost his fascination for what light could do.

When OSRAM relocated its specialty lamp business to Berlin in 2000, Köhler said to himself: “I think I’ll apply there.” A short time later he started in sales, became a product manager and was then closer to his passion for film and television: “Our products opened the doors to movie sets and cinemas. I enjoy the customer environment and the applications. I could never have seen myself in general lighting, but special lamps and contact with end customers are exciting.”

Complete device instead of a component

Special lamps also include those that emit UV-C radiation. They have been at the top of Köhler’s task list for over two years. “The market is crying out for this means of disinfection. Many new companies are now working on the technology, but need help with integrating the lamps. As a result, we suddenly find ourselves in the role of equipment manufacturer and are more involved as consultants,” says Köhler.

“The market is crying out for UV-C as a means of disinfection.”

The time pressure is enormous because unless you’re quick you’ll miss the market.” This is why lots of things run in parallel. That’s particularly true for him as he coordinates everyone involved in development, production and logistics. “I am basically a person who needs calmness and structure, but in stressful situations I adapt,” he adds. “In the past, OSRAM was the supertanker gliding across the sea. Changes came slowly but always after much consideration. Things are different now. Markets are changing rapidly and competition is fierce. Now we need to react quickly to new circumstances. “We can no longer take two years to develop a UV-C device and then launch it on the market. Those days are long gone. We have to adapt the processes and often take a fairly pragmatic approach.”

His team is currently working on a UV-C product portfolio – for a whole new target group. “Up to now, our customers have been professional users, but now we are selling to private customers. That means we need to use entirely different sales channels and sell via online platforms such as Amazon. This is still new territory for us.”

Don’t panic!

There is also a need to rethink the safety features for devices with UV-C light. They have to be designed so that even private users can use them safely. Köhler believes that is both a challenge and a great opportunity: “We no longer only supply the source of radiation, but also offer complete solutions including sensors.”

For Köhler, close coordination with his colleagues is an essential element along the path to a new product. Especially when things get tricky. His approach is to let things sink in for a while, avoid panicking and work out with the team what a solution might look like. “It’s important for me to keep motivating people,“ says Köhler. “I’m basically a positive person – my glass is always half full. Every setback is an experience and can be overcome. As the leader, I try to convey this to my team. The really important ingredient is humor. Humor always helps me to pull myself out of difficult situations.”

In use: 

UV-C-products

Products with conventional lamps as sources of UV-C are already available. OSRAM’s AirZing is one of them. First developed for the Chinese market, the device was initially used in early 2020 to disinfect the air in the hospitals set up in Wuhan during the intense phase of the corona pandemic. AirZing is now being used throughout the world. If there are no people in a room, the device is switched on and cleans the air and surfaces with its UV-C radiation. As soon as someone enters the room, sensors detect this movement and immediately turn off the light to prevent damage to skin and eyes.

The issue of efficiency

But these devices are still equipped with conventional discharge lamps that produce UV-C light. The efficiency of the LEDs is not yet good enough to flood large rooms with UV-C light. For a conventional lamp with 30 W of electrical power, efficiency is between 30 and 40 percent, which equates to about twelve watts of UV-C output. If you want to replace a 30 W lamp for disinfecting a room, you would need a large number of LEDs. That would not make economic sense. Replacing a lamp with an LED is just not possible yet.

The LED is ideal, however, for use in mobile applications. It is compact, shatter-proof, vibration-resistant and does not contain mercury. For developers that’s reason enough to create devices in which the LED does a good job even with low efficiency. A compact device for disinfecting small areas is a promising concept.

Small areas at the start

The idea here is for UV-C light to disinfect the air in a room by means of permanent circulation. The used air is drawn into the device where it is sterilized and then directed back into the room. To disinfect a defined volume of space, a certain UV-C output is required and a certain velocity at which the air is channeled past the UV-C source.

With a normal LED unit this is not possible due to the low efficiency and the high cost. The solution: a HEPA filter (high-efficiency air filter) installed upstream of the UV-C LEDs to trap the viruses. This germ trap is then cleaned by a small UV-C LED unit. Instead of disinfecting all the air, the UV-C light shines only on the filter and sterilizes it. LEDs could therefore soon be operating in large areas.

Research is also being carried out on small devices, such as a UV-C LED box in which the light removes viruses and germs from the surfaces of cell phones and other objects. That would be a “germ killer to go”.

OSRAM Licht AG

OSRAM makes the world brighter. With around 21,000 employees worldwide, the Munich-based company is developing applications for the future in its three business units (Opto Semiconductors, Automotive and Digital). What does it need? An eye to the future, visible and invisible light and brilliant employees. Its lamps and LEDs illuminate so many different things including greenhouses, cars, cinemas, runways, streets and even cycling clothes. And they make viruses harmless with UV-C light.


Fotografie: Jan Hosan

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Licht gegen Viren – 1:0 https://sechsnull.de/osram-in-zukunft-mit-uv-c-licht-gegen-viren/ Tue, 15 Dec 2020 12:23:51 +0000 https://sechsnull.de/?p=3740 Ein Entwicklerteam von OSRAM erschafft Licht, das es auf der Erde eigentlich gar nicht gibt, um Oberflächen, Raumluft oder Wasser mit UV-C Licht zu entkeimen. Das Rezept: Geballtes Fachwissen, den Mut neu zu denken und die Leuchtdiode.

Für zehn Minuten das Licht anknipsen und schon ist die Raumluft gereinigt? Das Handy in ein Kästchen gelegt und nach wenigen Minuten ist es keimfrei? Was futuristisch anmutet, ist bereits Realität: Die Entkeimung mit kurzwelliger Ultraviolettstrahlung, dem UV-C-Licht.

Dabei gibt es UV-C-Strahlung auf der Erde eigentlich gar nicht. Sie wird von der Ozonschicht absorbiert. Und das ist auch gut so, denn das kurzwellige Licht ist besonders energiereich und sorgt dafür, dass die chemischen Bindungen in der RNA oder DNA-Helix aufbrechen. Eine Weitergabe der Erbinformation wird so verhindert. Mit dem positiven Effekt, dass Viren oder Bakterien nicht mehr infektiös sind und sich nicht vermehren können. Diese Eigenschaft macht UV-C-Licht für die Entkeimung zu einem vielversprechenden Werkzeug.

Doch die Strahlung zersetzt nicht nur nicht nur schädliche Mikroorgansimen, sie kann auch beim Menschen schwerwiegende Schäden an Haut oder Augen verursachen. Ohne Schutzkleidung ist der Kontakt mit UV-C-Licht gefährlich.

In Systemen, die die Raumluft mit der Kraft des Lichts reinigen, stecken momentan noch herkömmliche Gasentladungslampen als Lichtquelle. Die haben allerdings einen entscheidenden Nachteil: Gehen sie zu Bruch, kann Quecksilber austreten. Für mobile Anwendungen sind sie darum nur bedingt geeignet. Anders die Leuchtdiode, kurz: LED. Sie ist klein, flexibel, langlebig und vibrationsresistent – und sie kann UV-C-Licht emittieren. Der Keimkiller für die Jackentasche ist damit in greifbarer Nähe. Die aktuelle Herausforderung: Effizienz. Mit einem Wirkungsgrad von derzeit vier Prozent steckt in der UV-C-LED noch deutliches Verbesserungspotential. Darauf fokussiert das Osram-Team derzeit seine Arbeit.

Die Entwickler*innen von OSRAM arbeiten daran, das zu ändern. Eine Aufgabe, die Kreativität, Ausdauer und Leidensfähigkeit erfordert. Und das Team genau deswegen besonders reizt.

Wer steckt hinter der Technik?

Hightech braucht Menschen. Und diese Menschen brauchen Hightech. Finden Sie selbst heraus, welche kreativen Köpfe hinter der Technik der UV-C-LED stecken und legen Sie den Schalter um.

Hans-Jürgen Lugauer:

bringt Halbleiter zum Leuchten

Lugauer ist Physiker und Senior Manager in der Vorentwicklung bei Osram Opto Semiconductors

Rückschläge ist Hans-Jürgen Lugauer gewohnt. „Wenn man mit denen nicht umgehen kann, ist man in der Vorentwicklung falsch aufgehoben“, sagt er. Lugauer weiß, wovon er spricht. Schließlich macht er seine Arbeit bei Osram seit 1999. Es war seine erste und einzige Bewerbung nach der Promotion an der Uni Würzburg und für Lugauer bis heute ein ‚perfect match‘.

„Der Job macht mir unglaublich viel Spaß, das passt perfekt für mich. Natürlich gibt es auch mal Phasen, in denen es nicht so super läuft und ich viel Arbeit investiere und dann trotzdem nochmals von vorne anfange, damit muss ich umgehen können.“ Anders könnte er es sich aber auch nicht vorstellen: „Ich möchte nichts machen, von dem ich nicht weiß, warum ich das mache. Auch ein Routinejob wäre nichts für mich – ich brauche schon eine gewisse Challenge.“ Nach seiner Entwicklungsarbeit an LEDs für den sichtbaren Bereich heißt diese Herausforderung nun LEDs zu entwickeln, die UV-C-Licht emittieren.

Spaß am Knacken harter Nüsse

Lugauers Aufgaben haben sich mittlerweile verändert. Er sitzt mehr am Schreibtisch und ist weniger im Labor. Fehlt ihm dieses Selbermachen? „Ja, das vermisse ich tatsächlich. Es juckt mich immer wieder, selbst aktiv etwas zu machen. Ich versuche aber so nah wie möglich an der Technologie zu sein, damit ich Probleme auch noch im Detail verstehen kann. Ein reiner Managementjob ohne technischen Bezug wäre nichts für mich“, betont er.

„Ich versuche so nah wie möglich an der Technologie zu sein, um Probleme im Detail zu verstehen.“

Wird es mal wirklich kniffelig, zieht er sich gerne erst einmal allein zurück, um zu verstehen, an was es hakt – und seinen Ansatz danach im Team zu diskutieren. Ohne die Interaktion mit den Kolleginnen und Kollegen ginge es für ihn nicht. Das sei eine der wichtigsten Komponenten bei seiner Arbeit.

Überhaupt mag er das gemeinsame kreative Arbeiten, das in der Vorentwicklung möglich und nötig ist: „Ich bin kreativ, was auch mit etwas Unstrukturiertheit einhergeht. Ich arbeite hart daran, sie in Grenzen zu halten“, gibt er lachend zu.

Lugauer lacht viel – auch bei der Arbeit: „Mir ist wichtig, dass der Humor nicht zu kurz kommt. Wir lachen oft, auch mal über ganz Alltägliches. Das motiviert mich und meine Kollegen. Wenn ich keinen Spaß hätte, wäre ich nicht zufrieden.“

Licht mit gesellschaftlicher Relevanz

Mit diesem motivierten Team erschafft er nun Licht, das Viren unschädlich macht. Das gibt seiner Arbeit nochmals eine besonderen Sinn, sagt Lugauer: „Es fühlt sich gut an, dass bald kleine, mobile Geräte mit UV-C-Licht in Räumen Luft entkeimen und so, zum Beispiel im Krankenhaus dafür sorgen können, dass weniger Menschen an Bakterien und Viren sterben. Wir entwickeln hier was sozial und gesellschaftlich wirklich Relevantes. Mit UV-C-LEDs können wir es schaffen, die bisher verwendeten Quecksilberlampen abzulösen. Das wäre ein Riesensprung nach vorne für die Gesundheit der Bevölkerung und die Umwelt. Das gibt mir ein extrem gutes Gefühl.“

Die Basis: 

der Halbleiterkristall

Aluminiumgalliumnitrid, kurz: AlGaN, ist die Basis für das UV-C-Licht. Dieses Halbleiterkristall ist eine Verbindung aus Aluminium, Gallium und Stickstoff. Damit unterscheiden sich UV-C-LED bereits grundsätzlich von blauen LED, auf denen die handelsüblichen weißen LED aufbauen. Letztere basieren auf Indiumgalliumnitrid (InGaN). Für das UV-C-Licht tauschten die Entwickler also das Indium gegen das Aluminium. So einfach? Nein, denn die Materialeigenschaften der beiden Verbindungen unterscheiden sich. AlGaN verhält sich daher auch völlig anders als InGaN. Es braucht also auch neue Entwicklungs- und Herstellungsprozesse.

Der Isolator soll leuchten

Die große Herausforderung: das Material zum Leuchten zu bringen. Per se tut es das nicht – der Hableiter AlGaN ist auch bei Raumtemperatur noch ein sehr guter Isolator. Erst durch das gezielte Zumischen von Atomen wird aus dem quasi nichtleitenden ein leitendes Material. Dieser Herstellungsprozess nennt sich Epitaxie. Bei dem chemischen Abscheidungsverfahren werden die Ausgangsmaterialien gasförmig in einen Reaktor geleitet. Dort reagieren sie unter extrem hohen Temperaturen von weit über 1.100 Grad Celsius auf einer passenden Unterlage, dem sogenannten Substrat, miteinander.

Das in der Halbleiterwelt übliche Silizium ist dabei als Substrat ungeeignet, da sich die Gitterabstände der beiden Kristalle zu sehr unterscheiden und es UV-C Strahlung absorbiert. Für blaue, grüne und weiße LEDs auf InGaN-Basis kommt daher meist Aluminiumoxid Al2O3, auch Saphir genannt, zum Einsatz. Auch für Aluminiumgalliumnitrid ist Saphir für die Erzeugung von UV-C-Licht das Substrat der Wahl. Denn seine physikalischen Eigenschaften passen sehr gut zu denen des Halbleiters. Außerdem ist es transparent für die UV-C Strahlung.

Hauchdünn geschichtet

Der Epitaxieprozess selbst gleicht weitgehend dem bei der Herstellung einer konventionellen LED: Es werden weit über hundert hauchdünne Schichten aufeinander abgeschieden. Die wichtigsten, die sogenannten „Quantentröge“, sind dabei dünner als zehn Atomlagen. Damit die LED am Ende das kurzwellige UV-C-Licht in der richtigen Wellenlänge von 260-280 Nanometer emittiert, ist aber viel theoretische Vorarbeit gefragt. Die Schichtstruktur ist komplex, die Wechselwirkungen zwischen den Schichten sind es ebenfalls. Wie genau sie miteinander interagieren weiß man erst, wenn der Chip fertig ist, doch ihre Dicke und Zusammensetzung werden vorab auf theoretischer Basis betrachtet, um das bestmögliche Ergebnis zu erhalten.

Schließlich ist es soweit: Als erstes entsteht eine Pufferschicht, dann folgen die aktiven LED-Schichten und am Ende wird eine Kontaktschicht aufgetragen. An diesem Punkt lässt sich die Wellenlänge des Lichts bereits relativ fein einstellen. Die Stellschraube: das Mischverhältnis von Aluminium und Gallium in den aktiven LED-Schichten.

Fehlersuche unter dem Rasterkraftmikroskop

Immer wieder tauchen während des Herstellungsprozesses Fragen und neue Herausforderungen auf. Ein Beispiel: Sobald die LED-Struktur Schicht für Schicht bis zur Kontaktschicht aufgebaut ist, emittiert sie bereits etwas Licht, aber nicht genug. Die Suche nach wichtigen Stellschrauben beginnt. Ist die gewählte Struktur optimal? Wo passen Zusammensetzungen nicht? Wo müssen Strukturen entfernt oder ergänzt werden, damit es besser wird? Wo gehen die Elektronen verloren?

Auf der Suche nach dem Fehler tastet zum Beispiel ein sogenanntes Atomic Force Microscope die Oberfläche der Pufferschichten fein ab und macht die atomaren Strukturen sichtbar. Ist sie glatt oder ist sie rau? Gibt es Löcher oder Defekte durch Partikel?

Röntgenstrahlen machen außerdem sichtbar, wie die Schichten zusammengesetzt und wie sie gegeneinander verspannt sind. Die LED-Schichten werden auf ihre Leitfähigkeit geprüft. Je nachdem, wie gut die Schichten leiten, wissen die Entwickler, ob sie auf dem richtigen Weg sind, oder ob sie die Schichten und ihre Zusammensetzung neu überdenken müssen. Immer wieder bedeutet das: einen oder mehrere Schritte zurück oder eben auch ganz von vorne anfangen und nochmal alles neu denken.

Chipswürfel in Sandkorngröße

Das gilt auch für den nächsten Schritt, die Chipprozessierung. Die in der Epitaxie gefertigte Scheibe wird dabei strukturiert, mit Metallkontakten versehen und am Ende in kleine Würfelchen, die Chips, vereinzelt. Die winzigen, sandkorngroßen Kristalle müssen aus ihr herausgesägt werden. Sie sind es, die später das UV-C-Licht emittieren.

Stand heute tun sie dies allerdings noch nicht effizient genug. Während blaue LEDs einen Wirkungsrad von weit über 60 Prozent erreichen können, schaffen UV-C-LED aktuell gerade einmal etwa vier Prozent. Für die Entwickler ist das derzeit noch die härteste Nuss, die es zu knacken gilt.

Alexander Wilm:

baut der LED ein Haus

Wilm ist Diplom Ingenieur Mechatronik und Senior Key Expert Applications bei Osram Opto Semiconductors

Alexander Wilm braucht die Herausforderung. Am wohlsten fühlt er sich auf unbekanntem Terrain: „Ich arbeite mich gerne in für mich unbekannte Themen ein und gestalte Zukunftstechnologien mit. Wenn es dann alle machen, suche ich mir was Neues“, sagt er und lacht. Glücklicherweise gab es für ihn bei Osram in den letzten 16 Jahren davon immer genug. Die LED hat ihn begleitet oder vielmehr er die LED: In Automobilscheinwerfern, Handys, Beamern, Gewächshäusern und in Straßenlampen. Für zwei Jahre auch in Singapur.

Anlass für einen Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber sah er darum nie, sagt er, stattdessen gab es immer viel zu entdecken und voranzubringen. So wie jetzt bei der UV-C-LED für die Entkeimung. Im Application Engineering ist Wilm Schnittstelle zwischen der Entwicklung und den Kunden. Das heißt, er diskutiert Konzepte und Prototypen mit einem Kunden und bringt Wünsche und Anforderungen mit, um sie mit seinen Kollegen auf ihre Machbarkeit abzuklopfen.

Einfach mal rumspinnen

Die Mischung gefällt ihm: „Für mich gibt es hier einfach ein unglaublich gutes und kreatives Arbeitsklima. Ich muss frei denken können und das geht hier. Gerade, wer Hightech entwickeln will, braucht den Raum, um auch mal völlig frei rum zu spinnen.“ In speziellen Kreativitätsworkshops kann er das tun. „Ziel ist es, aus dem evolutionären Weiterentwickeln rauszukommen, und etwas komplett Neues zu schaffen. Mal völlig andere Ansätze zu verfolgen“, erklärt er.

„Wir müssen aus dem evolutionären Weiterentwickeln rauskommen und etwas komplett Neues schaffen. Mal völlig andere Ansätze verfolgen.“

Angst vor Fehlern dürfe man dabei keine haben, stattdessen den Mut zu offener Kommunikation: „Ich bin ein Freund davon, Probleme anzusprechen. Wenn etwas nicht funktioniert, dann muss man das ohne Bedenken auch sagen dürfen. Schließlich können wir daraus viel lernen.“

Licht bändigen

An besonders kniffeligen Problemen knobelt Wilm am liebsten abends: „Wenn ich mich in ein Thema reinfuchsen muss, setze ich mich meistens nochmals hin, wenn ich meine Ruhe habe“, sagt er. Manchmal denkt er da auch über die Verantwortung nach, die die Entwicklung von der UV-C-LED mit sich bringt. „Die Technologie ist nicht ganz ungefährlich. Man muss die LED verantwortungsvoll einsetzen. Kontrollmechanismen und Sensoriksysteme helfen uns dabei. Auch hier reißen die Möglichkeiten und Aufgaben also nicht ab“, sagt Wilm.

Er ist sich sicher, dass ihn die LED auch in anderen Anwendungsbereichen noch eine Weile beschäftigen wird. „Ich glaube mit der LED als Lichtquelle, die so flexibel und universell einsetzbar ist, sind wir gerade erst am Anfang. Es gibt noch so viele neue Ideen und Konzepte. Noch ein paar von diesen neuen Bereichen mit zu begleiten, das würde mir Spaß machen.“

Gut geschützt:

das Package


Ist ein Chip vereinzelt, ist er vor allem eines: sehr empfindlich. Zum Schutz bekommt er darum zuerst einmal ein Häuschen, das Package. Das hat unterschiedlichste Aufgaben: Zum einen ermöglicht es den elektrischen Anschluss, um Strom in die LED zu bringen. Es stellt außerdem sicher, dass ein Bestückautomat die LED aufnehmen und auf einer Platine platzieren kann, ohne sie zu beschädigen. Gleichzeitig übernimmt es optische Funktionen. Mit einem kleinen Reflektor im Package kann man bereits Licht- oder Strahlungsrichtungen durchführen.

Heiße Angelegenheit

Bei der Auslegung des Packages spielt das thermische Management eine wichtige Rolle. Denn je heißer eine LED betrieben wird, desto schneller altert sie. Lediglich vier Prozent der elektrischen Energie, die in die LED geleitet wird, emittiert sie als UV-C-Strahlung, der Rest ist Verlustleistung – und die erzeugt Wärme. Für das Package heißt das: es soll die entstehende Wärme so gut wie möglich aus dem Chip ableiten. Je besser das funktioniert, desto kühler bleibt der Chip und desto länger lebt er. Für die Entwicklung ist das ein kritischer Punkt, denn einerseits ermöglicht zum Beispiel ein größeres Package einen optimaleren Wärmefluss, andererseits bedeutet größer oft auch teurer.

Ob und wie gut das thermische Management funktioniert, simulieren die Entwickler bevor sie erste Prototypen bauen. Sie starten zunächst sehr breit, mit unterschiedlichen Konzepten. Finite-Elemente Methoden helfen ihnen dabei, die Materialwechselwirkungen einzuschätzen. Dabei wird der Körper, der berechnet werden soll in kleine Teilkörper zerlegt und diese dann auf ihr physikalisches Verhalten analysiert. Das ist wichtig, denn die Ausdehnungskoeffizienten der einzelnen Materialien, aus denen das Package besteht, unterscheiden sich. Bei Erwärmung führt das zu internen Spannungen. Ob die Verbindungsstellen diesen Stand halten, lässt sich im Vorfeld bereits simulieren und über das Design lösen: Kleine Features wie eckige oder runde Kanten, haben oftmals einen Einfluss darauf, wie gut sich Spannungsspitzen abfedern lassen.

Das Licht formen

Je nachdem, in welcher Anwendung das UV-C-Licht später zur Entkeimung eingesetzt werden soll, muss auch die Abstrahlcharakteristik entsprechend angepasst werden. Das emittierte Licht lässt sich unter anderem sehr breit auffächern oder eng bündeln. Sollen beispielsweise Wasser oder Luft, die an der LED vorbeiströmen gereinigt werden, ist es sinnvoll, die Strahlquelle nicht eng zu clustern, sondern sie entlang eines Wasser- oder Lüftungsrohrs zu verteilen, um das Medium gleichmäßig damit zu bestrahlen. Im Gegensatz dazu erfordert die Entkeimung von Wasser an einem Wasserhahn oder von Gegenständen in kleinen portablen Boxen deutlich kleinere und konzentrierte Strahlungsflüsse. Das lässt sich über das Package realisieren.

Neu denken, heißt es auch bei der Auswahl der Materialien für das Package. Einfach die der konventionellen LEDs zu übernehmen, funktioniert nicht. Denn dort eingesetzte Kunststoffe und organische Vergussmaterialien würde das UV-C-Licht mit seiner hochenergetischen Strahlung zersetzen. Die Entwickler suchen also nach Materialien, die ein stabiles, solides und langlebiges Package ermöglichen. Keramiken, Glas und Metallisierungen haben sich bisher bewährt.

Auf Biegen und Brechen

Überzeugt eine Package-Variante in der Simulation, wird sie als Prototyp aufgebaut und muss erst einmal den sogenannten „Test-to-Failure“ überstehen. Bei diesem Test wird das Package so stark belastet, bis es kaputt geht. Dabei ist es deutlich überhöhten Betriebsbedingungen und Belastungen ausgesetzt – die im realen Umfeld so nicht auftreten würden. In den Härtetests zeigt sich, ob Verbindungsstellen aufgehen und wie das Material altert. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf die Lebensdauer der LED zu.

Sind alle Anforderungen definiert und das Package designt, prüft die Fertigung, ob es sich auch in großen Stückzahlen fertigen lässt. Ist das möglich, ist auch das Entwicklungsprojekt abgeschlossen und die Serienfertigung kann beginnen.

André Köhler:

knipst das UV-C-Licht an

Köhler ist Global Product Manager Airfield, Medical, UV bei OSRAM DI Industry

Eigentlich wollte André Köhler ja an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg studieren. Denn das Kino und Filmproduktionen faszinierten ihn. Stattdessen studierte er BWL, Soziologie und Psychologie. Aber die Faszination für das Lichtspiel blieb.

Als OSRAM den Geschäftsbereich für Speziallampen im Jahr 2000 nach Berlin verlegte, stand für Köhler fest: „Da bewerbe ich mich.“ Kurze Zeit später startete er im Vertrieb, wurde Produktmanager – und war damit seiner Leidenschaft für Film und Fernsehen wieder näher: „Unsere Produkte öffneten mir die Türen zu Filmsets und Kinos. Das Kundenumfeld und die Applikationen machen mir Spaß. Ich hätte mich nie im Bereich Allgemeinbeleuchtung gesehen, aber die Speziallampen und der Kontakt zu den Endkunden ist spannend.“

Komplettgerät statt Komponente

Zu den Speziallampen gehören auch die mit UV-C-Strahlung. Sie stehen seit gut zwei Jahren ganz oben auf Köhlers Aufgabenliste. „Der Markt schreit momentan nach dieser Lösung zur Entkeimung. Viele neue Firmen beschäftigen sich jetzt mit der Technologie, benötigen aber Hilfe bei der Integration der Lampen. Dadurch sind wir plötzlich in der Rolle eines Geräteherstellers und stärker beratend tätig“, berichtet Köhler.

„Der Markt schreit momentan nach UV-C als Lösung zur Entkeimung.“

Der Zeitdruck sei groß, denn nur wer schnell ist, mischt auf dem Markt mit.“ Vieles laufe darum parallel. Gerade auch für ihn, der alle Beteiligten aus Entwicklung, Fertigung und Logistik koordiniert. „Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der eher Ruhe und Struktur braucht, aber in Stresssituationen passe ich mich an“, betont Köhler. „Früher war OSRAM immer ein großer Tanker, der ruhig durch die See fuhr. Änderungen wurden langsam, aber sehr bewusst vollzogen. Das ist jetzt anders. Die Märkte verändern sich schnell und die Konkurrenz ist groß. Nun heißt es: schnell auf die neuen Gegebenheiten reagieren. „Wir können an einem UV-C-Gerät nicht mehr zwei Jahre entwickeln und es dann in den Markt geben. Die Zeiten sind vorbei. Wir müssen die Prozesse anpassen und oft relativ pragmatisch vorgehen.“

Sein Team arbeitet momentan an einem UV-C-Produktportfolio – für eine ganz neue Zielgruppe. „Bisher waren unsere Kunden professionelle Anwender, jetzt verkaufen wir an Privatkunden. Das heißt, wir müssen ganz andere Vertriebswege nutzen und über Online-Plattformen wie Amazon verkaufen. Das ist für uns noch Neuland.“

Keine Panik!

Neu denken heißt es auch bei den Sicherheitsfeatures für die Geräte mit UV-C-Licht. Diese müssen so ausgelegt sein, dass selbst private Anwender sie gefahrlos einsetzen können. Eine ziemliche Herausforderung und gleichzeitig eine große Chance, findet Köhler: „Wir liefern nicht mehr nur die Strahlquelle sondern bieten Komplettlösungen mit Sensorik an.“

Auf dem Weg zu neuen Produkten ist die enge Abstimmung mit seinen Kolleg*innen für Köhler essenziell. Gerade wenn es einmal kniffelig wird. Seine Devise: Erst einmal sacken lassen, keine Panik und mit dem Team ausloten, wie eine Lösung aussehen könnte. „Für mich ist wichtig, dass ich die Leute immer wieder motiviere“, sagt Köhler. „Ich habe generell eine positive Grundstimmung – für mich ist das Glas halbvoll. Jeder Rückschlag ist eine Erfahrung und kann gemeistert werden. Das versuche ich dem Team als Leiter mitzugeben. Und ganz wichtig dabei: Humor! Humor hilft mir immer, mich auch aus schwierigen Situationen selbst wieder herauszuziehen.“

Im Einsatz: 

die UV-C-Produkte

Produkte mit konventionellen Lampen als UV-C-Strahlquelle gibt es bereits. OSRAM‘s AirZing ist eines davon. Zuerst für den chinesischen Markt entwickelt, entkeimte das Gerät am Anfang in Wuhan während der Hochphase der Corona-Pandemie Anfang 2020 die Luft in den dort eingerichteten Krankenhäusern. Inzwischen werden die Geräte weltweit eingesetzt. Ist ein Zimmer menschenleer, wird das Gerät angeschaltet und reinigt mit seiner UV-C-Strahlung die Luft und Oberflächen. Kommt jemand in den Raum, erkennen Sensoren die Bewegung und schalten das Licht sofort ab, um Schäden an Haut und Augen zu vermeiden.

Die Sache mit der Effizienz

Doch bisher stecken in diesen Geräten noch konventionelle Entladungslampen, die UV-C-Licht erzeugen. Denn die Effizienz der LED reicht bisher nicht, um größere Räume mit UV-C-Licht zu bestrahlen. Bei einer konventionellen Lampe mit 30 Watt elektrischer Leistung liegt die Effizienz zwischen 30 und 40 Prozent, das sind etwa zwölf Watt UV-C Leistung. Will man zum Beispiel eine 30 Watt Lampe ersetzen, mit der ein Raum entkeimt wird, bräuchte es aktuell noch sehr viele LEDs. Das ist ökonomisch nicht sinnvoll. Lampe raus, LED rein – das geht noch nicht.

Dabei ist die LED gerade für den Einsatz in mobilen Anwendungen perfekt geeignet. Sie ist kompakt, bruchsicher, vibrationsresistent und kommt ohne Quecksilber aus. Für die Entwickler Grund genug, an Geräten zu feilen, in denen die LED auch mit geringerer Effizienz einen guten Job macht. Ein vielversprechendes Konzept: ein kompaktes Gerät zur Entkeimung von kleineren Flächen.

Kleine Flächen für den Anfang

Die Idee dahinter: Die UV-C-Lichtlösung zur Entkeimung der Raumluft arbeitet mit einer permanenten Zirkulation. Die verbrauchte Luft wird eingesaugt, im Gerät entkeimt und dann wieder in den Raum geleitet. Um ein definiertes Raumvolumen zu desinfizieren ist eine gewisse UV-C-Leistung erforderlich und eine bestimmte Luftgeschwindigkeit, mit der die Luft an der UV-C-Luftquelle vorbeigeleitet wird.

Mit einer normalen LED-Einheit ist das aufgrund der geringen Effizienz und der hohen Kosten nicht möglich. Die Lösung: Vor den UV-C-LEDs wird ein High-Efficiency Particulate Air-Filter, kurz: HEPA-Filter, eingebaut, der die Viren aufnimmt. Diesen zusätzlichen Keimblocker reinigt dann eine kleine UV-C-LED-Einheit. Statt die komplette Luft zu entkeimen, strahlt das UV-C-Licht also nur auf den Filter und entkeimt diesen. So könnten LEDs schon bald Aufgaben in größeren Anlagen übernehmen.

Geforscht wird außerdem an kleinen Geräten, wie einer UV-C-LED-Box in der das Licht die Oberflächen von Handys oder anderen Gegenständen von Viren und Keimen befreit. Das wäre dann der „Keimkiller To-go“.

OSRAM Licht AG

OSRAM macht die Welt heller. Mit weltweit rund 21.000 Mitarbeiter*innen entwickelt das Münchner Unternehmen in drei Geschäftsbereichen (Opto Semiconductors, Automotive und Digital) Anwendungen für die Zukunft. Was es dafür braucht? Den Blick nach vorne, Sichtbares und unsichtbares Licht und brillante Mitarbeiter.  Die Lampen und LEDs beleuchten unter anderem Gewächshäuser, Autos, Kinos, Landebahnen, Straßen oder auch Radkleidung. Und sie machen Viren mit UV-C-Licht unschädlich.


Fotografie: Jan Hosan

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„Meine Vision ist eine Gesellschaft, die kaum noch Ressourcen verbraucht“ https://sechsnull.de/interview-portrait-mit-veronika-grimm-uber-corona-wirtschaft-klimaziele-zukunft/ Mon, 05 Oct 2020 07:39:45 +0000 https://dev.sechsnull.de/?p=3298 Prof. Veronika Grimm berät die Bundesregierung als eine von fünf Wirtschaftsweisen. Wir haben sie Anfang August in Nürnberg getroffen. Dort hat sie uns erklärt, wie Deutschland durch die Corona-Krise kommt, warum Zukunftsinvestitionen nötig sind  und wie damit auch der Klimaschutz vorangebracht werden kann.

Corona ist seit sechs Monaten das alles dominierende Thema und unser ständiger Begleiter. Was denken Sie, wie würde unser Gespräch beginnen, wenn wir es in einem halben Jahr führen?

Dann wird uns die Corona-Pandemie immer noch sehr fest im Griff haben, wir würden immer noch als erstes darüber reden.

Die Zahlen steigen, Experten sprechen bereits von der zweiten Welle. Was würde ein zweiter Lockdown bedeuten?

Ein weiterer Lockdown wäre fatal und wahrscheinlich auch nicht zwingend notwendig. Wir waren im Frühjahr 2020 nicht wirklich gut auf eine weltweite Pandemie vorbereitet. Das hat sich jetzt geändert: Wir haben in Schutzausrüstung und Intensivmedizin investiert. Es gibt Masken. Und wir können die Pandemiebekämpfung in Zukunft besser organisieren: mit Hilfe von Tests sowie Tracking- und Tracingtechnologien. Auch unsere Gesundheitsämter sind nun besser aufgestellt. Insofern sollten wir jetzt in der Lage sein, eine neue Infektionswelle mit regionalen, zielgerichteten Maßnahmen in den Griff zu bekommen.

Gelingt uns das nicht, könnte die aufgrund der mittlerweile stark reduzierten Liquidität vieler Unternehmen zu einer großen Zahl an Insolvenzen führen. Das wiederum hätte massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auch die Banken könnten aufgrund fauler Kredite leiden.

„Es ist sinnvoll so hohe Summen einzusetzen, denn es ist billiger die Wirtschaft wieder zu beleben statt sie neu aufzubauen.“

Prof. Veronika Grimm im Interview über

Um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, pumpt die Europäische Union 1,8 Billionen Euro in die Märkte, die Bundesregierung macht 750 Milliarden Euro locker. Was bringt das alles?

Wenn wir jetzt nicht unmittelbar und umfangreich gegensteuern, müssen wir uns auf Insolvenzen gefasst machen. Dadurch würde uns wirtschaftliches Potenzial verloren gehen, dass wir neu aufbauen müssten. Hilft man den Unternehmen über diese Periode hinweg, können wir die Wirtschaft wieder beleben. Es ist also sinnvoll, hohe Summen einzusetzen. Aber es kommt auch darauf an, wie der Staat eingreift.

Da gab es im Vorfeld des Konjunkturpakets schon ein großes Wunschkonzert. Ganz prominent war die Diskussion über die Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotoren. Ein Argument war, man könne so einen Pfropfen lösen, die Fahrzeuge, die jetzt auf Halde liegen, abverkaufen und dann schneller die Produktion wieder anzuschieben. Doch die Argumente dagegen überwiegen. Zum einen hätte die Industrie den erwünschten Effekt über Rabatte selbst auslösen können. Zum anderen wurden 2009, als es eine solche Kaufprämie schon einmal gab, hauptsächlich Fahrzeuge ausländischer Hersteller gekauft. Ein Großteil der Hilfe wäre also bei den deutschen Herstellern gar nicht angekommen.

Jetzt fokussiert das Konjunkturpaket in seinem „Zukunftspaket“ sehr klar auf die Zukunftsthemen Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung. Über Einzelheiten kann man sich streiten. Aber insgesamt ist es die richtige Richtung.

Das Geld fließt in die Wirtschaft. Sorgt das nicht für Frustration, wenn es dann heißt: für soziale Projekte, Pflege, Kinderbetreuung und ähnliches sei kein Geld mehr da?

Das, was den nötigen Spielraum erzeugt, ist eine zukunftsfähige Wirtschaft und ein dadurch solider Staatshaushalt. Die Möglichkeiten, dauerhaft für sozialen Ausgleich zu sorgen, sind umso größer, je schneller wir wieder auf einen – hoffentlich nachhaltigen – Wachstumspfad kommen. Idealerweise nutzen wir die Situation und fördern den ohnehin stattfindenden Strukturwandel. Gibt es zukunftsfähige Geschäftsmodelle, dann sichert das viele Arbeitsplätze. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir aus dieser Krise herauskommen.

„Die Wirtschaft wird sich schneller verändern, als das ohne Corona der Fall gewesen wäre“

Und wie ist dieser Strukturwandel zu schaffen?

Nehmen wir die Verlängerung der Kurzarbeit. Da ist es wichtig, zu überlegen, ob es in Branchen Strukturbrüche geben wird, wie etwa im Flugverkehr oder im Tourismus. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Flugreisen dauerhaft abnehmen, weil wir entdecken, dass wir bestimmte Dinge auch ohne Reisetätigkeit umsetzen können.

Vielleicht wird es aufgrund der Pandemie auch für längere Zeit Vorbehalte geben, in sehr weit entfernte Regionen zu fliegen. Das hätte Auswirkungen auf die gesamte Tourismus- und Veranstaltungsbranche. Im Rahmen der Kurzarbeit wäre es deshalb gut, den Betroffenen mit Weiterbildungsmaßnahmen eine Umorientierung in zukunftsfähigere Bereiche zu ermöglichen. Es muss auch darum gehen, die unausweichlichen Transformationsprozesse so zu unterstützen, dass den Menschen neue Chancen eröffnet werden.

Wo soll der Staat regelnd einspringen und wo sollten wir dies den Markt regeln lassen?

Hier wirken Märkte und eine koordinierende Rolle staatlicher Institutionen zusammen. Zum Beispiel kann die Bundesagentur für Arbeit Weiterbildungen während der Kurzarbeit fördern. Insbesondere dann, wenn sich die Branche im Strukturwandel befindet und eine Weiterbildung in Engpassberufen angestrebt wird. Hier gibt es auch umfangreiche Informationsangebote von Behörden.

Der Weiterbildungsmarkt ist sehr vielfältig, es ist gar nicht leicht, sich zurechtzufinden. Daher ist Beratung und Koordination auch durch staatliche Stellen sehr wichtig.

Wann sollten die Hilfen spürbar greifen?

In Deutschland stehen wir gut da. Wir haben relativ große und zielgerichtete Programme aufgelegt, weswegen nun langsam eine Erholung einsetzt. Viele Unternehmen mussten hohe Verluste in Kauf nehmen. Doch durch einige Maßnahmen, wie zum Beispiel den steuerlichen Verlustrücktrag, verbessert sich die Liquidität.

Schwierig ist es dort, wo der Normalbetrieb noch lange nicht einsetzt oder ein Strukturwandel unausweichlich ist. Mit zunehmender Dauer der Beschränkungen muss man dann gezielt strukturelle Anpassungen begleiten oder längerfristig unterstützen. Dieser Übergang wird sehr herausfordernd sein. Wir werden auch Insolvenzen in Kauf nehmen müssen. Die Wirtschaft wird sich schneller verändern als das ohne Corona der Fall gewesen wäre.

Stichwort Veränderungen. Corona hat uns zu einer Art Turbo-Digitalisierung gezwungen. Werden wir danach wieder so weiter machen wie vorher?

Ich bin mir sicher: Unsere Arbeitswelt verändert sich nachhaltig. Wir haben nun erlebt, dass Dinge digital funktionieren, die vorher nicht denkbar gewesen wären. Zum Beispiel werden jetzt mehr Reisen durch Videokonferenzen substituiert. Das wird uns bestimmt erhalten bleiben. Der konsequente Austausch über digitale Plattformen ist ein riesiger Effizienzgewinn.

Dämme sind auch in der Digitalisierung von Behörden gebrochen. Da war Deutschland bisher relativ langsam. Man würde also gut daran tun, diese Impulse der Krise so aufzunehmen, dass wir damit die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und auch der Schulen ist dafür ein idealer Bereich. Hier können viele Projekte zeitnah umgesetzt werden, was auch die Auftragslage von IT-Firmen verbessert.

„Auch in der Digitalisierung von Behörden sind jetzt Dämme gebrochen.“

In der Plattformökonomie sehen wir nur noch die Rücklichter des Zuges. Wo ist noch Platz für Europa in Sachen Digitalisierung?

Ich bin skeptisch, ob wir im Bereich der Plattformökonomie den amerikanischen Giganten Konkurrenz machen können. Aber ich denke nicht, dass der Zug für die gesamte Digitalbranche abgefahren ist.

Wir müssen Geschäftsmodelle vorantreiben, die langfristig eine gute Alternative zu den amerikanischen Plattformen darstellen. So gibt es für Videokonferenzen wenig akzeptable Tools von europäischen Anbietern. Da bietet Corona jetzt einen großen Anreiz, das zu ändern. Hier ist ein Massenmarkt entstanden. Auch im Bereich künstliche Intelligenz haben wir komparative Vorteile.

Aufholen müssen wir in Deutschland bei der Netzabdeckung, denn viele Innovationen werden nur entstehen, wenn die Anwendungen und Dienste auch flächendeckend nutzbar sind. Wichtig ist die Frage: Welche Konzepte ermöglichen uns eine höhere digitale Souveränität und sind sie mit unseren Vorstellungen von Datenschutz kompatibel – die sich klar von den amerikanischen oder chinesischen Vorstellungen unterscheiden? Eine weitere Chance bietet den Europäern das Internet of Things im Business-to-Business-Bereich, zum Beispiel im Gesundheitssektor.

Die Pandemie ist nicht unsere einzige wirtschaftspolitische Herausforderung. Wie können wir das Klima schützen?

Schon vor der Coronakrise gab es bemerkenswerte Entwicklungen im Bereich Klimaschutz. Mit dem Klimapaket im Jahr 2019 wurde der CO2-Handel als Leitinstrument der Klimapolitik etabliert. Das ist ein großer Fortschritt, auch wenn das avisierte Preisniveau noch zu wünschen übrig lässt.

Wenn wir bis 2050 klimaneutral werden wollen, brauchen wir viel grünen Wasserstoff und synthetische Energieträger. Für Klimaneutralität müssen wir alle Sektoren dekarbonisieren – direkt durch Elektrifizierung oder indirekt, indem wir erneuerbaren Strom in Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe umwandeln. Damit können wir dann schwere Fahrzeuge betreiben, emissionsintensive Rohstoffe in der Industrie ersetzen oder Stahl produzieren.

Diese Transformation erfordert umfangreiche privatwirtschaftliche Investitionen und kann nur durch eine Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen ausgelöst werden. Da liegt noch einiges vor uns. Der Wandel bedingt massive Umstellungen industrieller Prozesse, des Transportsektors und des Wärmesektors.

Dabei eröffnen sich aber auch Chancen für die deutsche Industrie. Im Bereich Wasserstoff und synthetische Energieträger sind die Unternehmen in Deutschland exzellent aufgestellt, auch die Forschungslandschaft ist weltspitze. Die Europäische Union, viele europäische Staaten und Bundesländer haben Wasserstoffstrategien vorgelegt. Im Rahmen der Konjunkturpakete hat sich diese Entwicklung beschleunigt. Nun muss die Umsetzung ebenso konsequent geschehen.

Fahren wir dann in zehn Jahren Wasserstoffautos?

Wir fahren heute schon Wasserstoffautos, also einige wenige von uns. Aber bis die Wasserstoffmobilität tatsächlich einen signifikanten Anteil der Mobilität ausmacht, wird es noch dauern.

Im Pkw-Bereich wird heiß diskutiert, ob man die Batterie oder die Brennstoffzelle vorantreiben soll. Im Lkw-Bereich, bei schweren Nutzfahrzeugen, bei Schiffen und Flugzeugen ist es relativ klar: Da sind Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe nach heutigem Kenntnisstand die einzig sinnvolle Option. Denn eine Batterie wäre schwerer als die Ladung.

Es zeichnet sich also ab, dass wir ohnehin die Wasserstoff-Tankstelleninfrastruktur aufbauen werden. Ebenso, wie wir eine Ladesäuleninfrastruktur für Elektroautos haben werden. Wenn es diese gibt, entscheidet der Markt, wer welches Fahrzeug fährt.

„Ohne grünen Wasserstoff verfehlen wir unsere Klimaziele.“

Welche Auswirkungen hat das Ziel Klimaneutralität auf die Energiemärkte und Netze?

Aktuell importieren wir 72 Prozent unseres Energiebedarfs in Form von fossilen Energieträgern. In einer erneuerbaren Welt werden wir weiterhin stark auf Energieimporte angewiesen sein. Diese werden zum Beispiel per Schiff in Form synthetischer Energieträger oder über Stromleitungen nach Deutschland transportiert. Es wird ein Zusammenspiel verschiedener Märkte geben: Strom, Gas, Wasserstoff. Die entsprechenden Netzplanungen sind dabei aufeinander abgestimmt. Der Handel erneuerbarer Energieträger eröffnet die Chance neuer Energiepartnerschaften.

Deshalb suchen wir im Rahmen der Wasserstoffstrategie Partnerschaften mit Ländern, die gute Bedingungen haben, grünen Wasserstoff zu erzeugen. Es lohnt sich, jetzt Partnerschaften anzubahnen, denn es gibt einen weltweiten Wettbewerb um Kooperationen.

Ist die deutsche Wirtschaft fit genug für diese Herausforderungen?

Es wird einen intensiven Wettbewerb mit Ländern wie China, Japan oder Südkorea um Zukunftsmärkte geben. Es ist ganz wichtig zu sehen, dass diese Staaten unterschiedliche Voraussetzungen haben. In China, aber auch in Japan und Südkorea, wird deutlich mehr staatlich geplant und angeschoben.

Wir dagegen haben über unser marktorientiertes Wirtschaftssystem die Chance, die Akteure zielgerichtet über Rahmenbedingungen und Marktausgestaltung zu lenken. Wir haben gute Chancen, wenn wir das Potenzial nutzen.

Wie sehen solche Rahmenbedingungen aus?

Wir müssen die Energie-Bepreisung europaweit umfassend reformieren. Es gibt viele verzerrende Abgaben und Umlagen, die auch die Preise erneuerbarer Energie in die Höhe treiben. Das sind zum Beispiel die EEG-Umlage oder Steuern aus Zeiten, in denen Energieverbrauch noch per se umweltschädlich war. Doch je teurer der Strom ist, desto teurer ist auch die Sektorenkopplung – also die Dekarbonisierung der Mobilität, der Wärmeerzeugung und der Industrie durch die Nutzung erneuerbaren Stroms.

Es gilt also, die Abgaben und Umlagen weitgehend abzuschaffen und durch eine Bepreisung von CO2-Emissionen zu ersetzen. Dann würden sich die Vorteile von klimaneutralen Technologien und Produkten auch in den Preisen widerspiegeln und die koordinierende Wirkung des Marktes könnte greifen.

Lässt sich eine CO2-Abgabe zu 100 Prozent über eine entsprechende Steuersenkung kompensieren?

Das kommt darauf an. Gehen wir mal von einem sektorenübergreifenden CO2-Preis von 35 Euro aus: Für einkommensschwache Haushalte würde eine Umstellung auf eine konsequente CO2-Bepreisung im Durchschnitt zu einer Erhöhung des verfügbaren Einkommens führen, wenn im Gegenzug Stromsteuer und EEG-Umlage abgeschafft würden. Haushalte am oberen Ende der Einkommensverteilung würden leicht draufzahlen. Kleine mittelständische Unternehmen würden im Schnitt profitieren. Wenn der Preis dann vorhersehbar ansteigt, steigen einerseits die Kosten bei gleichbleibenden Emissionen.

Aber wenn Haushalte und Unternehmen den Anstieg vorhersehen, dann können sie auch gezielt durch Investitionen Emissionen verringern und so Kosten sparen. Das ist ja genau der erwünschte Effekt. Natürlich gibt es immer auch Haushalte, die besonders belastet wären, zum Beispiel solche mit niedrigem Einkommen, die eine Ölheizung haben und einen langem Arbeitsweg. Hier müsste die Politik im Übergang für einen Ausgleich sorgen. Aber das steht einer Reform nicht entgegen.

Herausforderungen ergeben sich in Industrien, die sehr hohe CO2-Emissionen und eine hohe Handelsintensität haben. Zum Beispiel die Stahlindustrie. Schon heute ist sie von Abgaben und Umlagen befreit und erhält kostenlose Zertifikate im Rahmen des Emissionshandels, um die Wettbewerbsfähigkeit mit der außereuropäischen Konkurrenz zu sichern.

Da jedoch mit steigenden CO2-Preisen und einer zunehmend ehrgeizigen Klimapolitik in verschiedenen Mitgliedsstaaten zu rechnen ist, besteht die Befürchtung, dass dies nicht ausreichen könnte. Deswegen denkt die EU darüber nach, wie sie die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen über einen CO2-Grenzausgleich erhalten kann. Da ist man schnell in handelspolitischen Diskussionen, da die CO2-Besteuerung auch als Handelsbarriere interpretiert werden kann. Hier sind kluge Konzepte gefragt.

„Wenn wir bis 2050 klimaneutral werden wollen, brauchen wir in großem Umfang grünen Wasserstoff“

Prof. Veronika Grimm über ihre persönliche Motivation.

Sie machen sich stark für die Zukunftsprojekte Klimaschutz, Digitalisierung und Bildung. Was ist Ihre persönliche Motivation?

Mich fasziniert die Vision, dass wir als Gesellschaft weitgehend ohne den Verbrauch von Ressourcen klarkommen können. Und ich glaube, dass sich eine Gesellschaft immer weiterentwickeln und solche Herausforderungen als Chance begreifen muss. Die Veränderungsprozesse mit zu gestalten, finde ich ziemlich faszinierend.

Zur Person

Veronika Grimm, geboren 1971, seit 2008 Professorin für Volkswirtschaftslehre an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie ist Direktorin des Laboratory for Experimental Research Nuremberg (LERN) und Vorsitzende der Wissenschaftlichen Leitung des Energie Campus Nürnberg (EnCN). Seit April 2020 ist sie Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage und damit eine von fünf Wirtschaftsweisen.

Außerdem ist sie unter anderem im Nationalen Wasserstoffrat, im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie in der Expertenkommission zum Monitoringprozess „Energie der Zukunft“ am BMWi tätig. Sie twittert regelmäßig zu Themen aus Wissenschaft und Politik unter @GrimmVeronika.

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Wie das Licht am Ende des Tunnels entsteht https://sechsnull.de/scrollytelling-xfel-in-hamburg-fotos-von-roentgen-laserblitzen-in-der-foschung/ Tue, 17 Mar 2020 22:54:00 +0000 https://dev.sechsnull.de/?p=1899 Unter der Erdoberfläche zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein erzeugt eine einzigartige Maschine das intensivste Röntgenlicht der Welt. Physiker, Biologen, Chemiker und Mediziner aus aller Welt treffen sich hier, um Entdeckungen zu machen, die unsere Zukunft bestimmen werden.

Es gibt sie zahlreich: Die Dinge, die wir Menschen nicht sehen. Weil sie zu schnell sind. Weil sie zu klein sind. Oder weil sie sich tief im Inneren von Undurchdringbarem abspielen. Theoretisch können wir sie zwar verstehen und beschreiben – Moleküle zum Beispiel, und ihre Reaktionen miteinander. Aber wieviel mehr könnten wir erfahren, wenn wir diese Dinge beobachten oder sogar fotografieren könnten? Dafür brauchen wir ein Blitzgerät mit extrem kurzer Wellenlänge, kürzester Pulslänge und hoher Wiederholfrequenz: Ein Röntgenlicht-Stroboskop, so kurzwellig und schnell, wie noch nie zuvor vom Menschen erschaffen.

Der „European X-Ray Free-Electron Laser“ (European XFEL), ein unterirdischer Teilchenbeschleuniger, meistert diese Herausforderung. Seine Forschungsmöglichkeiten sind einzigartig. Er beginnt auf dem Campus des deutschen Forschungs- und Beschleunigerzentrums „Deutsches Elektronen Synchrotron“ (DESY) in Hamburg-Bahrenfeld. Von dort aus beschleunigt er auf einer unterirdischen 3,4 Kilometer langen Rennstrecke freie Elektronen auf irrsinnige Geschwindigkeiten, um Röntgenlaserblitze zu erzeugen.

Diese ermöglichen in Schenefeld in Schleswig-Holstein Experimente, von denen Physiker, Biologen, Chemiker und Mediziner bislang nur träumen konnten. Es geht um die großen Menschheitsfragen von der Entstehung unseres Planeten bis zum Sieg gegen den Krebs. Wie das geht? Um das zu zeigen, steigen wir in den Untergrund und folgen einem Elektronenpaket.

In Hamburg, in einer Halle unter dem DESY steht der Elektroneninjektor. Unter den blauen Spulen verbirgt sich die Elektronenquelle.
03570

Elektronenkanone

38 Meter unter der Erdoberfläche gibt die Elektronenkanone den Startschuss. In ihrem hohlen Inneren schießt ein ultravioletter Laser genau kalkulierte Blitze auf eine Elektrode. Sein Licht löst einen Schauer von Elektronen aus. In den Hohlräumen beschleunigt und paketiert ein Hochfrequenzfeld die Elektronen. Das Magnetfeld der deutlich erkennbaren blauen Spulen hält sie auf der Bahn und schickt sie in einer Vakuumröhre Richtung Experimentierhalle in Schenefeld.

Pro Sekunde verlassen bis zu 27.000 praktisch identische Elektronenpakete die Kanone.

Das ist die Grundvoraussetzung, um am Ende des Tunnels ein perfektes Röntgenstroboskop für die Experimente zu haben. Jeder noch so kleine Unterschied der Pakete würde die Daten der Forscher*innen beeinträchtigen.

Hochfrequenzfelder katapultieren die Teilchen durch die ersten 70 Meter der Strecke, direkt auf die Module eines Linearbeschleunigers zu. Sie haben schon jetzt eine Energie von 130 Megaelektronenvolt und ein Tempo von 99,9992 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Doch jetzt geht es erst richtig los.

In diesen knallgelben Röhren des Linearbeschleunigers bekommen die Elektronen geballte Energie.
801001502004006008001.0001.2001.4001.6001.700

Linearbeschleuniger

Acht Hohlraumresonatoren stecken in einer zwölf Meter langen knallgelben Röhre. Jeder Resonator aus dem Metall Niob badet in flüssigem Helium, denn das bringt ihn auf tiefste Temperaturen. Bei -271 Grad Celsius liegt der elektrische Widerstand bei Null. Der Resonator ist dadurch supraleitend. Im Resonator schwingende Mikrowellen übertragen ihre Energie auf die Elektronenpakete in der Vakuumröhre.

Hat ein Elektronenpaket ein Modul passiert, jagt es sofort zum nächsten – 96 Mal in Folge – denn so viele Beschleunigerelemente verbergen sich in diesem Streckenabschnitt unter der Erde.

So nah an der Lichtgeschwindigkeit passiert etwas Ungewohntes: Während die Geschwindigkeit in Kilometern pro Sekunde kaum noch zunimmt, steigt die Masse der Teilchen proportional zur Energie. Auf der gesamten Beschleunigerstrecke durchlaufen die Elektronenpakete 17,5 Gigaelektronenvolt.

27.000

Elektronenpakete

jagen jede Sekunde durch diesen Tunnel.

Die Elektronen haben ein Tempo von bis zu

99,99999996

Prozent

Lichtgeschwindigkeit.

Licht kann

300.000

Kilometer

in der Sekunde zurücklegen.

Dieser Beschleuniger lädt die Elektronen mit

17,5

Gigaelektronenvolt (GeV)

auf. Das ist 175 x so stark wie
ein Blitz bei einem Gewitter.

Ein Modul misst

12

Meter

und beinhaltet
8 Hohlraumresonatoren.

-271

Grad Celsius

ist die Temperatur des Heliums an den Resonatoren.
Das ist kälter als die Temperatur des Weltraums.

96

knallgelbe Beschleunigerelemente
gibt es in diesem Tunnelabschnitt.
Sie liegen hintereinander.

Der Durchmesser des Tunnels, der vom DESY bis zum Hauptgebäude des European XFEL führt, liegt zwischen

5,30

und

4,60

Metern.

In diesem Tunnel dürfen sich unter strengen Sicherheitsbedingungen Wissenschafter*innen, Ingenieur*innen und Techniker*innen nur aufhalten,
wenn der Strahl ausgeschaltet ist.

Die Elementarteilchen befinden sich in einem Vakuumrohr innerhalb der Tunnelröhre. Die Röhre ist mit Stahlträgern an der Tunneldecke aufgehängt.

Die 2 Kilometer Beschleunigerstrecke
legen die Elektronen in

6,67

Mikrosekunden

zurück.

Im Betrieb verbraucht
die Maschine so viel Strom wie
1 komplette Kleinstadt oder

2

ICE

unter Volllast.

Fast geschafft!

Nachdem das Elektronenpaket den Linearbeschleuniger Modul für Modul hinter sich gelassen hat, bleiben nur noch 1.400 Meter bis zu den Stationen, an denen experimentiert wird. Höchste Zeit, das Röntgenlicht zu erzeugen. Da jede Experimentierstation das Licht mit ganz bestimmten Wellenlängen und Eigenschaften braucht, ist der Tunnel ab hier verzweigt, um die Elektronenpakete in unterschiedliche Richtungen zu schicken.

Einblicke in den komplexen technischen Aufbau im Tunnel. Im Bild: Magnete (vorne) und ein Spiegel (mittig).

Aus der Vogelperspektive

Ein ausgeklügeltes System aus Magneten, Undulatoren und Spiegeln erzeugt, formt und verzweigt die Röntgenstrahlen über mehrere Stufen. Den Anfang macht der Elektronenverteiler unter dem Ortsteil Osdorf in Hamburg, in den wir uns einfach hineinklicken können!

Klicken Sie auf die Punkte:

Der Elektronenverteiler

Wenn die Pakete den Elektronenverteiler im Hamburger Ortsteil Osdorfer Born erreichen, haben sie 2.100 Meter in 6,67 Mikrosekunden zurückgelegt und sind mit einer Energie von 17,5 Gigaelektronenvolt aufgeladen. Hier verzweigt sich der European XFEL in zwei Tunnel.

Ein Magnet kickt einen Teil der Elektronen nach links, während andere den Kurs halten. Fliegen sie in das weiterführende Tunnelsystem, machen sie ziemlich bald die Bekanntschaft mit einem Undulator.

Nächste Zwischenstation: Der Undulator

Der Undulator

Der Undulator ist 200 Meter lang und mit Permanentmagneten bestückt. Diese sind so angeordnet, dass sich die Richtung ihrer Magnetfelder abwechselnd umkehrt. Die Kraft dieser Magnete würde reichen, das Gewicht von 375 Autos zu heben. Stattdessen üben sie ihre Kraft auf die winzigen Teilchen aus und zwingen die Elektronenpakete in einen Slalomkurs. Mit jeder Kurve geschieht, was geschehen soll: Die einzelnen Elektronen strahlen Energiebündel ab – hochenergetische, extrem kurzwellige Röntgenphotonen – die ersehnten Röntgenblitze.

Die Undulatoren befinden sich an drei verschiedenen Stellen, in dem sich immer weiter verzweigenden Tunnelsystem. Ein Durchflug passt die Lichtblitze speziell für die Experimente der Wissenschaftler*innen an. Eine Feinjustierung nimmt die Mannschaft per Fernsteuerung vom DESY vor.

Jetzt werden die Elektronen von den Photonen getrennt.

Die Elektronenablenkung

Die Photonen jagen als ersehnte Röntgenblitze auf die Experimentierstationen zu. Sie halten Kurs auf die Stationen in Schenefeld, wo die Forscher*innen sie für ihre Experimente erwarten. Die Elektronen hingegen haben ausgedient. Die beiden Elementarteilchen müssen also voneinander getrennt werden.

Dafür nutzt die Maschine die Tatsache, dass Photonen sich von Magneten nicht lenken lassen. Ein weiterer Hochleistungsmagnet sorgt für Ordnung. Sein Magnetfeld schickt die Elektronen an der nächsten Gabelung in eine Sackgasse. Die Photonen dagegen fliegen unbeirrt weiter.

Diese Magnetspulen aus Kupfer stecken in roten Stahlblöcken und dienen dazu, den Elektronenstrahl zusammenzuhalten.

Für einige Teilchen geht es weiter, andere werden in eine Sackgasse gelenkt.

Der Elektronenauffänger

Die Maschine erzeugt mit Hilfe der Elektronen die perfekten Photonen für die Experimente. Jetzt werden sie nicht mehr gebraucht. Magnete lenken sie in einen mit Graphit gefüllte Röhre unterhalb der Tunnel. Dort, nur 11 Mikrosekunden nach dem „Kick-off“ in der Elektronenkanone, wird der Elektronenstrahl kontrolliert abgebremst und absorbiert.

Nur durch die Elektronen konnten wertvolle Photonen erzeugt werden.

Die Photonenstrahlführung

Die Photonen jagen nun in drei verschiedenen Photonentunneln durch Vakuumröhren. Hier sind sie unter sich, ohne jegliche Interaktion mit Materie. Jedes Elektronenpaket hat in jeder Undulatorkurve Photonen genau gleicher Energie und Wellenlänge abgegeben. So entstehen Schwärme von Röntgenblitzen, die in exakt vorgegebener Frequenz aufeinander folgen. Ihre Energie ist so hoch und die Wellenlänge so kurz, dass dieses Licht fast alles durchdringt. Es lässt sich kaum noch lenken. Der Rest des Weges ist deshalb schnurgerade.

Falls die Richtung doch noch korrigiert werden muss, hilft ein Spiegel!

Oder aber es geht weiter zur Diagnostik

Der Spiegel

In jedem der schnurgeraden Tunnel korrigiert ein Spezialspiegel die Photonenbahn noch einmal minimal und richtet die Pulse exakt auf die Experimente der Wissenschaftler aus.

Jeder Spiegel ist ein Siliziumblock, der in einem Reinstraum im Hochvakuum steht. Er wurde fast ein Jahr lang poliert, bis seine größten Unebenheiten geringer waren als ein Milliardstel Meter. Das ist weniger als ein Fußabdruck am Strand im Vergleich zum Durchmesser der Erde. Das Ziel ist jetzt in Sichtweite, für die Röntgenlaserblitze geht es nun die letzten Meter zu den Instrumenten.

Jetzt ist der Strahl in der richtigen Position für die Experimentierstationen!

Die Diagnostik

Dieses Diagnosegerät misst das Spektrum und die Polarisation der Photonen in einer der Tunnelverzweigungen. Es identifiziert die Eigenschaften der Pulse: ihre Helligkeit, Polarisation und Wellenlänge, also Farbe. Es nennt sich Photoelektronen-Spektrometer. Andere Diagnostik-Geräte arbeiten mit Kameras, Filtern oder Kristallen.

Jetzt ist der Strahl bereit für die Experimente!

Die Experimentierhalle

In Schenefeld, unter dem Hauptgebäude von European XFEL, münden die drei Tunnelsysteme in eine gewaltige unterirdische Experimentierhalle. Hier, auf 4.500 Quadratmetern, betreiben interdisziplinäre Teams von Wissenschaftler*innen Grundlagenforschung – in einem Jahr bis zu 3.000 Nutzer aus aller Welt. Zurzeit stehen für die Versuchsanordnungen sechs Stationen zur Verfügung, vier weitere sind geplant.

Jede Station ist mit speziellen Instrumenten für das jeweilige Anwendungsgebiet ausgestattet. In einem Kontrollraum passen die Wissenschaftler*innen die Eigenschaften des Röntgenlichts exakt auf die Anforderungen ihres Experiments an. Im Inneren des Instruments treffen das Licht und die zu untersuchende Probe aufeinander.

Station für Hohe Energiedichte (HED) 

Ulf Zastrau ist Physiker und leitet die Forschungsgruppe HED (High Energy Density). Die Gruppe, das sind fast 20 Kolleg*innen: Techniker*innen und Ingenieur*innen, Wissenschaftler*innen, Doktorand*innen und Gäste aus anderen Instituten. Sie arbeiten an diesem Instrument mit sehr harter Röntgenstrahlung, Hochleistungs-Lasern und einer Hochdruckpresse aus Diamant.

Mit diesem Instrument versetzt das Team um Zastrau Materie in extreme Zustände – macht sie zum Beispiel besonders dicht oder besonders heiß. Damit simuliert es die Bedingungen wie sie im Inneren von Planeten herrschen, zum Beispiel im Zentrum der Erde. Die harten Röntgenblitze mit bis 25 Kiloelektronenvolt durchdringen diese Materieproben und zeigen, was sich in ihrem Inneren abspielt.

Dies ist ein Probenhalter im Vakuum. Hier stößt das Licht mit einer Wellenlänge von etwa 0,1 Nanometern auf die Probe und ermöglicht einen Einblick in ihre atomare Struktur. Die speziellen Proben, die während des Experiments in extreme Zustände versetzt werden, bringen die Forschungsteams in der Regel selbst mit.

„Hier im Labor lernen wir etwas über unser Universum. Bisher können wir viele exotische Zustände von Materie im Inneren von Planeten nur vermuten, zum Beispiel die Existenz von metallischem Wasserstoff oder Heliumregen in Wasserstoffgas. Es wäre phantastisch, diese Zustände mit HED zu erzeugen und experimentell erstmals nachweisen zu können.“

Station für Struktur und Dynamik von Materialien (MID)

Jörg Hallmann ist Physiker und stellt als Instrument-Wissenschaftler seinen Wissenschafts-Kolleg*innen die Station MID zur Verfügung, damit das Verständnis der Menschheit für die Natur wachsen kann. Insbesondere geht es an dieser Station um Festkörper und Flüssigkeiten.

Die Experimentierstation MID (Materials Imaging and Dynamics) ist auf die Erforschungen von Strukturen und Dynamiken im Nanometerbereich spezialisiert. Das Röntgenlicht ermöglicht detailreiche Nahaufnahmen, um die Struktur des Materials zu untersuchen und um Dynamiken – also das Verhalten und die Veränderungen von Strukturen in einem zeitlichen Ablauf zu beobachten. Die Materialien, die untersucht werden, sind vielfältig und reichen von metallischen Verbindungen über biologische Systeme bis hin zu Flüssigkeiten.

Im Kontrollraum kann Hallmann die Strahlung, die aus dem Tunnel kommt, genau an die Bedürfnisse seines Experiments anpassen. Das Licht des Röntgenlasers hat Wellenlängen von 0,05 bis 0,25 Nanometern und zeichnet sich durch einen hohen Grad an Kohärenz aus. Dadurch gelten die Messungen als besonders hochwertig.

Der Blick in die Probenkammer, in der die FEL Pulse auf die Proben treffen, zeigt hier eine Quarzkapillare mit in Wasser verdünnten Nanopartikeln. In dieser Vakuumkammer können verschiedene Probensysteme untersucht und unterschiedliche Zusatzinstrumente, wie gepulste Magneten oder Kühlkomponenten, implementiert werden.

„Unsere Forschung erweitert das Wissen über Materialarten. Zum Beispiel metallische Gläser: Sie sind härter als Stahl aber wesentlich leichter. In der Raumfahrt oder Medizin sind sie bereits im Einsatz, für den breiten Markt jedoch noch nicht verfügbar. Wir erhoffen uns breitere Anwendungsgebiete, denn leichtere und stabilere Bauteile führen zur Einsparung von Ressourcen und Energie.“

Station für Femtosekunden-Röntgenexperimente (FXE) 

Wojciech Gawelda ist Physiker und leitet eine Forschungsgruppe in Madrid, die auch am European XFEL forscht und sich auf Femtosekunden-Röntgen-Experimente, also Femtosecond X-Ray Experiments (FXE) spezialisiert hat. So werden ultraschnelle Prozesse auf atomarer Ebene sichtbar. Eine Femtosekunde dauert nur das Billiardstel einer Sekunde, eine unvorstellbar kurze Zeitspanne.

Für die Experimente an der FXE-Station arbeiten Forscher*innen mit harten, also sehr energiereichen, Röntgenstrahlen (5-20 Kiloelektronenvolt) um dynamische Prozesse in flüssigen und festen Materialien zu untersuchen. Das Team besteht aus acht weiteren Wissenschaftler*innen und drei Ingenieuren.

Zu den möglichen Anwendungsfeldern zählt die Photovoltaik und die Photokatalyse. Dafür werden molekulare Materialien am FXE-Instrument untersucht. So geht es zum Beispiel um die Erzeugung synthetischer Moleküle, die in der Lage sind, Sonnenlicht effizient in elektrische oder chemische Energie umzuwandeln.

„Wenn wir noch besser verstehen, wie die Natur auf den mikroskopischen, beziehungsweise molekularen Raum- und Zeitskalen funktioniert, können wir die Wandlung von Sonnenenergie in Strom erheblich verbessern.“

Diese Aufnahme gelang unserem Fotografen Jan Hosan im Jahr 2019 an der Experimentierstation FXE. Es ist das erste Bild, das den XFEL-Röntgenstrahl sichtbar macht. Gelungen ist das nur durch eine extrem lange Belichtung bei völliger Dunkelheit und durch Anregung der Stickstoffmoleküle in der Luft.

Station für Partikel, Cluster und Biomoleküle (SPB/SFX)

Was genau geht in biologischen und biochemischen Systemen vor sich? Der Biologe Adam Round arbeitet als Wissenschaftler an der Experimentierstation für Einzelteilchen, Cluster, Biomoleküle und serieller Femtosekunden-Kristallographie (SPB/SFX). Mit ihm zusammen unterstützen 23 Kolleg*innen die Nutzer*innen des Instruments, um Antworten auf diese Frage zu finden.

Hier wird ein 3-D-Film von biochemischen Reaktionen in Biomolekülen, Viren oder Zellen aufgenommen. Jeder Puls liefert ein Beugungsbild der kristallinen Probe. Dank der ultraschnellen Pulsfolge lassen sich selbst extrem schnelle Abläufe verfolgen.

„Wir legen die Grundlage für neue Technologien und verbesserte Medikamente zur Bekämpfung von Krankheiten. Außerdem wollen wir die Menge an CO2 in der Atmosphäre reduzieren. Darum ist es wichtig, die Mechanismen der Photosynthese zu verstehen. Wenn wir wissen, wie die Natur Energie aus Licht gewinnt, wäre eine wirklich grüne solarbasierte Energieproduktion möglich.“

Station für kleine Quantensysteme (SQS)

Rebecca Boll ist Wissenschaftlerin am Instrument für kleine Quantensysteme. Ein Quantensystem kann zum Beispiel aus einem einzelnen Atom oder Molekülen bestehen – also aus sehr kleinen Einheiten. Deren Wechselwirkung mit Licht möchten Boll und andere internationale Wissenschaftler*innen untersuchen. Für die Experimente arbeiten sie mit weicher Röntgenstrahlung (270 – 3.000 Elektronenvolt).

Am SQS-Instrument sind ganz unterschiedliche Experimente möglich. Was hier wie ein Objekt aus einem Museum für moderne Kunst aussieht, ist ein Versuchsaufbau, der alle Bestandteile von einzelnen Atomen oder Molekülen nachweisen kann. Dadurch erhoffen sich die Wissenschaftler*innen Erkenntnisse über die fundamentale Wechselwirkung von Licht mit kleinsten Teilchen, zum Beispiel über ultraschnelle Explosionen von Molekülen oder nichtlineare Prozesse, in denen ein einzelnes Atom viele Photonen absorbiert.

„In jedem einzelnen Objekt unserer Welt steckt Quantenphysik. Sehen kann man Quanteneffekte jedoch nur bei sehr, sehr kleinen Teilchen, wenn man ganz genau hinschaut. Das ist Grundlagenforschung auf sehr fundamentalem Niveau. Mit den Erkenntnissen können wir Phänomene, die es in der Physik, Chemie und Biologie gibt, erklären.“

Station für Spektroskopie komplexe Strukturen (SCS)

Robert Carley, Wissenschaftler an der Station SCS, betreut Forscher*innen, die ultraschnelle Dynamiken in kondensierter Materie, also in Festkörpern und Flüssigkeiten, durchleuchten möchten. Der hier eintreffende Röntgenblitz ist besonders weich (250 bis 3.000 Kiloelektronenvolt).

Dieses Instrument kann zum Beispiel den Magnetismus der metallischen Legierung Eisen-Rhodium (FeRh) mit einem kurzen Röntgenpuls anschalten. Mit Hilfe des Röntgenlichts untersuchen die Forscher*innen, was dabei passiert. Die Ergebnisse könnten vor allem für die Computerindustrie interessant sein.

„Eisen-Rhodium könnte ein sehr zukunftsträchtiges Material für neuartige Datenspeicher sein. Dafür wollen wir am XFEL mehr über die Wechselwirkung von Materie und Licht und vor allem die mikroskopischen Prozesse, die sich dabei abspielen, herausfinden.“

European XFEL

European XFEL ist eine nicht gewinnorientierte Forschungsorganisation. Um dieses Projekt auf die Beine zu stellen, schlossen sich 12 Länder zusammen. Am Bau des Projekts beteiligten sich zahlreiche Partner, darunter vor allem das Deutsche Elektronen-Synchroton (DESY), ein Forschungszentrum für naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Der wissenschaftliche Betrieb startete im Jahr 2017, mittlerweile arbeiten 500 Mitarbeiter*innen bei European XFEL. Die derzeit sechs Experimentierstationen sind sehr gefragt. Weltweit können sich Wissenschafter*innen aus Forschung und Industrie für eine definierte Strahlzeit bewerben.


Fotografie: Jan Hosan

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„Deutschland altert. Prima!“ https://sechsnull.de/interview-portrait-mit-thomas-straubhaar-ueber-demografie-gesellschaft-bedingungslosem-grundeinkommen/ Tue, 10 Mar 2020 09:18:19 +0000 https://dev.sechsnull.de/?p=2037 Professor Thomas Straubhaar sagt: Demografie und Digitalisierung sind ein Traumpaar. Ihr erstes Kind sollte das bedingungslose Grundeinkommen sein.

Herr Straubhaar, die deutsche Bevölkerung wird schrumpfen und altern. Mal ehrlich: Wie schlimm wird es werden?

Ganz so sicher, wie Sie das jetzt hinstellen, ist das gar nicht. Erstmal ist es entscheidend, zu klären, was gemeint ist. Reden wir bei „deutscher Bevölkerung“ von der autochthonen, deutschstämmigen Bevölkerung? Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Anzahl schrumpft, in der Tat sehr hoch. Wenn wir die gesamte Wohnbevölkerung Deutschlands meinen, die auch Zugewanderte miteinschließt, ist es jedoch keineswegs so klar, dass die Bevölkerung schrumpfen wird. Das sehen wir etwa an der starken Immigration der letzten fünf Jahre, die die Prognosen zur Einwohnerzahl über den Haufen warf.

Es leben heute mehr Menschen in Deutschland als je zuvor. Was das Altern angeht, so dürften die Prognosen für eine alternde Gesellschaft deutlich sicherer sein. Der Faktor Alterung ist stabiler als der Faktor Anzahl.

Also altern ja, schrumpfen vielleicht, vielleicht auch nicht.

Genau. Die große Unbekannte für eine langfristige Prognose ist die Entwicklung der Zuwanderung. Niemand weiß, wie viele Menschen in den nächsten zehn, zwanzig Jahren einwandern oder auswandern werden.

Auf die Entwicklung der Altersstruktur der Gesamtbevölkerung hat die Zuwanderung jedoch einen viel kleineren Einfluss, als allgemein angenommen wird. Selbst eine hohe jährliche Zuwanderung von 200.000 meist jungen Menschen pro Jahr ist prozentual zu gering, um die Altersstruktur von 82 Millionen Einwohnern nachhaltig zu ändern. Übrigens: Auch Einwanderinnen und Einwander altern – so dass der Verjüngungseffekt mit der Zeit verpufft.

Wenn Deutschland also überaltert …

Vorsicht mit solchen Vokabeln, wie Überalterung, Überfremdung, Überbevölkerung! Das sind alles irreleitende Reizworte mit Instrumentalisierungscharakter. „Über“ bedeutet ja, dass man das Bild eines Normalzustands im Kopf hat. Es gibt aber keine gesellschaftlichen Normalzustände. Es gibt nur Zustände.

Wenn irgendetwas normal ist, dann ist das in unserem Zeitalter eine zunehmende Heterogenität, Diversität, Individualität. Sozioökonomisch gesehen, finden Sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft so viele unterschiedliche Lebensentwürfe gleichzeitig, dass man von einem Standard oder Normalzustand kaum noch sprechen kann.

Wenn in Deutschland also immer mehr Alte leben …

Vorsicht auch hier! Was ist denn ein alter Mensch? Auch hier haben wir gleich ein Bild im Kopf, das über die reine Anzahl an Lebensjahren hinausgeht. Meine Großmutter war mit 60 Jahren eine echte Greisin, meine Mutter war mit 60 zwar noch mobil und aufgeweckt, aber dennoch eine ältere Frau. Heute bin ich selbst über 60 und fühle mich weder körperlich noch geistig alt.

Die Menschen leben heutzutage viel gesünder als jemals zuvor. In der gesellschaftlichen Diskussion hängen wir aber noch viel zu sehr an dem Altersbild der 1960er Jahre, das in die Irre leitet. Wir reden dann zum Beispiel vom künftigen Pflegenotstand. Früher mussten Sie 60jährige ein paar Jahre lang pflegen, bevor sie starben, und heute pflegen wir halt 80jährige. Die Menschen werden zwar immer älter, aber die Zeit der Gebrechlichkeit verlängert sich dadurch nicht. Sie wird nur nach hinten verschoben.

Einen gewissen Welleneffekt wird es durch die vielen Babyboomer geben – das sind in Deutschland die besonders starken Geburtenjahrgänge zwischen 1955 und 1969. Bis die 80 Jahre alt sind, haben wir aber noch rund zwanzig Jahre Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Ich sehe das entspannt.

„Heterogenität ist der neue Normalzustand“

Thomas Straubhaar

Gut, wenn also die deutsche Bevölkerung insgesamt älter wird, wer soll denn dann arbeiten und den Wohlstand erwirtschaften?

Unter anderem Roboter und künstliche Intelligenz. Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit folgende zwei Panikdiskussionen gleichzeitig: „Hilfe, die Digitalisierung nimmt uns die Arbeitsplätze weg.“ Und: „Hilfe, die Demografie nimmt uns die Arbeitskräfte weg.“ Bringen Sie jedoch beides zusammen, haben Sie ein perfektes Match und keine Sorgen!

Wir sollten uns jeden Tag freuen, dass wir eine alternde und möglicherweise schrumpfende Bevölkerung haben. Hätten wir ganz viele junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, dann hätten wir künftig wirklich ein Problem. Es gäbe nicht genügend Jobs für sie. Denn wir haben das große Glück, besonders in der Industrie immer mehr körperliche Arbeit durch Roboter erledigen zu lassen und bald auch immer mehr geistige Arbeit durch künstliche Intelligenz. Das betrifft vor allem standardisierte Arbeitsabläufe, auf die ohnehin niemand große Lust hat: Fahren, Überwachen, Fließbandarbeit, Kontrollieren. Das können wir in Zukunft Maschinen erledigen lassen. Das ist doch super!

Mit dem Wandel der Demografie ist es wie beim Klima: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, zu reagieren.

Okay, aber Menschen wird es in der Arbeitswelt und in der Industrie ja trotzdem noch brauchen. Schon heute beklagen viele Unternehmen, dass sie nicht genügend Fachkräfte finden. Wird das dann in Zukunft nicht noch schlimmer?      

Es gibt keinen Fachkräftemangel.

Das sehen die Chefinnen und Chefs der Industrieunternehmen aber anders!

Natürlich tun sie das. Weil sie selbst das Problem sind. Es gibt keinen Fachkräftemangel, sehr wohl aber einen Führungsmangel in vielen Unternehmen. Ich kenne persönlich genug deutsche Industrieunternehmen, die überhaupt kein Problem haben, Fachkräfte zu finden. Warum? Weil sie attraktiv sind – und zwar nicht nur beim Lohn, sondern auch den Arbeitsbedingungen und bei der Wertschätzung dessen, was die Mitarbeitenden leisten.

Unternehmen müssen endlich begreifen, dass der Wind sich dreht: Früher hatten wir einen Arbeitgebermarkt. Die Unternehmen diktierten die Spielregeln und die Beschäftigten hatten sich entweder zu fügen, oder zu gehen. Heute jedoch müssten Firmen um Arbeitnehmer werben und sich viel stärker auf deren Wünsche einlassen. Stattdessen kleben viel zu viele noch in der alten Zeit, an 40-Stunden-Wochen und einem Arbeitnehmerbild aus dem 19. Jahrhundert. Wer die Zeichen der Zeit verstanden hat, bei dem gibt es auch keinen Mangel an Fachkräften.

„Bringen wir zwei aktuelle Panikdiskussionen zusammen, haben wir ein perfektes Match“

Thomas Straubhaar

Und was können Unternehmen tun, um jetzt und künftig an gute Arbeitskräfte zu kommen?

Vieles, da müssen sie gar nicht auf die Politik warten. Bezahlung ist immer noch der wichtigste Faktor. Zahlen Sie also höhere Löhne. Das allein reicht aber nicht. Führen Sie flexible Arbeitszeiten ein. Homeoffice. Geben Sie als Chefin oder Chef keine Befehle, sondern erarbeiten Sie im Team gemeinsame Ziele und vertrauen sie darauf, dass Ihre Leute von selber einen guten Weg finden werden. Bieten Sie Möglichkeiten für Aufstieg und Weiterbildung. Achten Sie auf die Gesundheit Ihrer Beschäftigten, zum Beispiel mit Präventionsmaßnahmen gegen Burnout. Ein Betriebskindergarten könnte eine gute Idee sein.

Überhaupt: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Beschäftigten Arbeit und Karriere gut verbinden können mit privaten Verpflichtungen, zum Beispiel sich um die eigenen Kinder oder um pflegebedürftige Eltern zu kümmern.

Mit klassischen Anreizen wie einem Dienstwagen brauchen sie heute vielen gar nicht mehr kommen. Arbeitnehmende haben heute stattdessen ein riesiges Bedürfnis nach einer guten Work-Life-Balance, Flexibilität, nach Anerkennung und Sinnhaftigkeit. Viele Unternehmen haben das erkannt und sind erfolgreich damit, aber noch längst nicht alle.

Das mag ja für heute eine prima Lösung sein. Dennoch ändert es nichts daran, dass es in Zukunft schlicht und einfach weniger Arbeitskräfte geben wird.

Das ist ein Irrtum. Wir haben in Deutschland ein riesiges Reservoir an potenziellen Arbeitskräften, das wir nicht ausschöpfen. Ich habe das mal berechnet und war selbst verblüfft, was da für gigantische Zahlen rauskommen. Ungenutzte Potenziale entdecke ich bei Frauen, bei Älteren und bei Menschen mit Migrationshintergrund, zum Beispiel aktuell auch bei Flüchtlingen. Das sind alles Gruppen, die nicht so stark am Arbeitsmarkt beteiligt sind, wie sie es könnten.

Ein viertes vielleicht überraschendes, aber enorm gewichtiges Potenzial sehe ich in der sogenannten schlummernden Produktivität. Viel Arbeitskraft geht verloren durch innere Verweigerung, Unkonzentriertheit, Ablenkung oder vergammelte Arbeitszeit. Hier sind wir wieder bei den vorhin angesprochenen Punkten: Unternehmen können sich produktiver machen, indem sie ihre Beschäftigten stärker fördern und motivieren.

Ich komme ehrlich gesagt noch nicht darüber hinweg, dass ich mich freuen soll, dass Maschinen und künstliche Intelligenz bald unsere Jobs übernehmen. Der Gewinn, den diese Maschinen dann erwirtschaften, landet dann doch bei den Eigentümerinnen und Aktionären der Firmen und alle anderen gehen leer aus. Womit bestreiten die dann ihren Lebensunterhalt? Und wer soll dann noch das Geld haben, all die schönen Produkte aus Roboterhand zu kaufen?

Das ist ein entscheidender Punkt. Bisher hängt die Lohnentwicklung an der Produktivitätsentwicklung und unsere Sozialsysteme hängen zu sehr an Beiträgen aus Lohnarbeit. In Zukunft müssen wir versuchen, alle Formen der Wertschöpfung an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, also auch Gewinne aus der Arbeit von Maschinen und Algorithmen, letztlich also Gewinne aus Kapital. Mir schwebt eine allgemeine Wertschöpfungssteuer vor, aus der heraus wir dann ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzieren.

Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen die Konsequenz aus der Verbindung von Digitalisierung und Demografie? 

Ja. Und ich habe ein entsprechendes Modell bereits entwickelt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist deswegen so zielführend, weil es eben genau darauf verzichtet, irgendwelche sozioökonomischen Entwicklungen zu priorisieren. Sprich: Es tut nicht so, als wüsste es, was wir in zehn oder zwanzig Jahren brauchen. Es ist offen für alle Veränderungen gleichermaßen. Berufsfelder und Lebensweisen sind heute – ich sagte es bereits – so plural und ändern sich immer schneller, dass es klug wäre, keine Bedingungen an ein Grundeinkommen zu stellen.

„Wir sollten noch in diesem Jahrzehnt ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen“

Thomas Straubhaar

Ganz schön große Veränderungen, die Sie da vorschlagen.

Das ist mir klar. Und diese Schritte sollten wir lieber heute als morgen tun. Denn es ist zu erwarten, dass eine insgesamt ältere Gesellschaft mental anders drauf ist als eine junge: weniger risikofreudig, weniger innovativ, weniger dynamisch. Und die Älteren stellen einen immer größeren Anteil der Wähler. Mit jedem Tag, den wir warten, wird demnach eine Reform zugunsten der Kindeskinder schwieriger und eine gute Lösung für kommende Generationen unwahrscheinlicher.

Kommt mir bekannt vor aus der politischen Diskussion um den Klimawandel.  

Aus der aktuellen Klimadiskussion und der Fridays-for-Future-Bewegung können wir für unser Thema in der Tat zweierlei lernen: Es zeigt sich, wie brutal schnell, Dinge in Fahrt kommen können, wenn eine Gesellschaft stillsteht, Probleme lange ignoriert werden und man nachhaltige Lösungen lieber auf künftige Generationen abschieben will. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass – wenn die Zeit dann halt drängt – die Forderungen solcher Bewegungen weit übers Ziel hinausschießen.

Im Falle von Fridays-for-Future sind das Ideen von unfassbar weitgehenden Eingriffen und Regulierungen, so dass sie Wirtschaft, Effizienz und Arbeitsplätze bedrohen. Hätte sich die Gesellschaft den ökologischen Herausforderungen früher gestellt und proaktiv gehandelt, wäre das alles viel ruhiger und besser verlaufen. Fridays-for-Future müsste eigentlich noch den Hinterletzten in Deutschland die Augen dafür öffnen, dass wir die Problematik von Digitalisierung und Demografie nicht auf die lange Bank schieben dürfen. Sonst werden wir Konflikte und Bruchlinien bekommen, die dann so hektische und unverhältnismäßige Maßnahmen nach sich ziehen, dass sie unseren Wohlstand und das gesellschaftliche System insgesamt aufs Spiel setzen.

Die Lehre der Klimabewegung für Politik und Unternehmen für den demografischen Wandel lautet: Handelt proaktiv, positiv und frühzeitig.

Hm, ich bin mir nicht sicher, ob ich den entscheidenden Akteuren das zutraue.

Ich auch nicht. Aber ich nehme an, dass der Handlungsdruck bis Ende der 2020er Jahre so groß sein wird, dass wir auf Lösungen wie das bedingungslose Grundeinkommen ohnehin nicht verzichten können. Besser wär’s trotzdem, wir würden uns heute schon damit befassen. Ihre erste Frage war ja: Wie schlimm wird es werden? Jetzt kriegen Sie meine Antwort: Es wird nicht schlimm, sondern großartig. Aber nur, wenn wir aus der Chance auch etwas machen. 

Zur Person

Thomas Straubhaar wurde 1957 in Untersee in der Schweiz geboren. Er ist Ökonom und Migrationsforscher und derzeit Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Hamburg. Er ist Kolumnist für Die Welt und Autor mehrerer Sachbücher zu den Themen demografischer Wandel, bedingungsloses Grundeinkommen und Digitalisierung.


Fotografie: Tobias Gerber

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Warum Festo seine Bioniker*innen einfach mal machen lässt https://sechsnull.de/video-recherche-bei-den-zukunftsmachern-im-bionik-labor-bei-festo/ Thu, 24 Oct 2019 08:50:46 +0000 https://dev.sechsnull.de/?p=186 Der schwäbische Maschinenbauer Festo hat ein Mittel, um den deutschen Erfindergeist am Leben zu erhalten: vollkommene Freiheit. Die Zukunfts­macher*innen des Bionik-Labors dürfen sich ihre Herausforderung selbst schaffen. Wie großartig ist das denn?

Für ihren Job brennen viele. Sagen sie zumindest. Im Bionik-Labor der Esslinger Festo-Zentrale muss es niemand aussprechen, man merkt es den Menschen an. Zum Beispiel an diesem verzückten Augenaufschlag, sobald jemand das Wort Bionik ausspricht. Oder daran, wie schnell die Zukunfts­macher*innen über ihre Erfindungen ins Plaudern kommen, auch wenn eigentlich niemand Zeit für ein einfallendes Rechercheteam mit naiven Fragen und im Weg herumstehenden Kameras hat. Einer der Menschen mit wenig Zeit ist Sebastian Schrof. Sein Jobtitel ist der perfekte Konversationsstarter für den Party-Smalltalk: Specialist Bionics and Design.

Die Bionik braucht die Denke von Designern wie Sebastian Schrof (1:01 min)

Auf einer Zehner-Skala bewertet er seinen Job mit 9,9. Und er sagt uns, warum: „Das Schöne an der Bionik ist, dass wir kein Problem lösen müssen.“ Nein, Schrof und seine Kollegen dürfen sich ihre Herausforderungen selbst schaffen. Wenn sie in der Natur etwas inspiriert, dann dürfen sie sich mit allen Mitteln darauf stürzen, es technisch nachzuempfinden. Ob und wie sich industriell Gewinn daraus schlagen lässt, ist erst mal zweitranging.

„Wir in der Bionik kennen kein Lastenheft.“

Sebastian Schrof, Specialist Bionics and Design bei Festo

Was aber nicht bedeutet, dass die Ansprüche daheimbleiben: „Unser Ziel ist es immer, dem natürlichen Vorbild so nahe wie möglich zu kommen“, sagt Schrof. Aber wie geht das eigentlich? Wie überträgt man die an Komplexität nicht zu übertreffende Natur in die Technik? Schließlich hat Schrof als junger Industriedesigner weder Biologie noch Technologie studiert. Statt akademischer Methodik bedient er sich derselben Mittel, mit denen auch Projekte seines jungen Sohns beginnen: Knete, Stöckchen und viel Vorstellungskraft. Hieraus entsteht ein erstes grobes Modell.

Dann kommen andere Spezialisten an Bord, Mechatroniker*innen, Elektroniker*innen oder Informatiker*innen zum Beispiel. Schrof: „Jetzt passiert das wichtigste, der gemeinsame Dialog. Durch das Erklären und Nachfragen verknüpfen sich bei mir im Kopf immer verschiedene Dinge zu Lösungen. Das passiert bei meinem Gegenüber auch. Und wenn wir beide dann unsere Ideen wiederum verknüpfen, dann passiert auf einmal Innovation.“    

Bioniker*innen schauen sich die besten Kniffe aus der Natur ab und übertragen diese auf die Technik.

Wasserabweisende Lotusoberflächen sind ebenso eine bionische Errungenschaft, wie der Klettverschluss am Kinderschuh.

Törööö! Inspiriert vom Elefanten

Spätestens jetzt interessieren Sie sich wahrscheinlich dafür, was konkret im Bionik-Labor bei Festo entsteht. Ein gutes Beispiel ist der BionicSoftArm, eine buchstäblich elefantöse Errungenschaft. Es handelt sich um einen Leichtbaurobotor, der dem Rüssel der grauen Dickhäuter nachempfunden ist. Entsprechend zieht er die Blicke auf sich, sobald er mit seinen pneumatischen (also per Druckluft angetriebenen) Bewegungen loslegt.

Gerade zu kunstvoll muten Bewegungsabläufe an. Das Exponat im Bionik-Labor schnappt sich mittels eines Greifers (der übrigens wiederum wie eine Chamäleonzunge funktioniert) kleine Metallkugeln und bringt sie von Punkt A nach B – „pick and place“ nennt sich das im Fachjargon.

Für das Empfinden des Zuschauers ist das etwas anderes, als den Arbeitstieren in einer Automobilfabrik beizuwohnen. Die Rüsselinspiration erschließt sich sofort dem Gehirn, das besondere an der Bionik wird deutlich. Schrof beschreibt den BionicSoftArm wie einen Kollegen: „Er ist ein sehr dynamischer Typ. Er kann kräftig zupacken, ist aber auch sanft, wenn nötig. Ich arbeite gerne mit ihm zusammen.“

Sein Vorbild: Der Elefantenrüssel. Die fließenden Bewegungsabläufe beherrscht der BionicSoftArm dank einer pneumatischen Balgstruktur stufenlos. Die Faltenbälge sind einzeln ansteuerbar, verkrümmen oder versteifen sich also ganz beliebig.

Brauchen wir das wirklich?

Karoline von Häfen, Leiterin Corporate Bionic Projects bei Festo, ist ganz verliebt in die Bionik.

Nett ist er also, der BionicSoftArm. Aber ist er auch gut in dem, was er kann? Kugeln aufnehmen, das klingt im ersten Moment nicht wie ein Must-Have. Und doch, laut den Festo-Bioniker*innen ist der Leichtbauroboter ein wichtiger Schritt. Das bestätigt auch Karoline von Häfen, die Chefin des Labors: „Zurzeit sind die Arbeitsräume von Roboter und Mensch oft getrennt. Allein aus Sicherheitsgründen ist das oft notwendig.“ In Gegenwart des BionicSoftArms muss jedoch niemand um Leib und Leben fürchten, da er gegebenenfalls ja auch sanft sein kann.

Für den direkten Kontakt zwischen Menschen und Maschine haben pneumatische Roboter einen entscheidenden Vorteil: ihre systemeigene Nachgiebigkeit. Die Bewegung erfolgt hier schließlich über sogenannte Aktoren, so der Fachbegriff für die Komponente, die Steuerungssignale in Bewegungen umwandelt. Im Falle der Pneumatik schießt je nach Bewegung gezielt Druckluft in bestimmte Aktoren, so dass das der gewünschte Ablauf beginnt. Sollte es zu einer Kollision kommen, gibt das System automatisch nach und stellt damit keine Gefahr für seinen Gegenüber dar. Gerade pneumatische Roboter bieten also den Vorteil, dass man sich problemlos mit ihnen den Raum, ja sogar den Arbeitsplatz teilen kann.

Der BionicCobot ist einer der Ahnen des BionicSoftArms. Im Zusammenspiel mit ihm zeigt Sebastian Schrof eindrücklich, wie sicher die kollaborativen Arbeitsräume der Zukunft sind.

„Allein unter dem Überbegriff der kollaborativen Arbeitsräume warten sehr viele spannende Konzepte, die unseren Alltag komplett verändern können“, sagt von Häfen. Apparate wie der BionicSoftArm ermöglichen diese Konzepte – und zwar preisgünstig für Anwender*innen. Die Stärken pneumatischer Antriebe liegen in der einfachen Handhabung und der Robustheit, den geringen Anschaffungskosten und hohen Leistungsdichte. So können sie vergleichsweise hohe Kräfte bei geringem Eigengewicht aufbringen. Haltevorgänge kommen ohne weiteren Druckluftverbrauch aus und sind damit äußerst energieeffizient.

Ein Clou des BionicSoftArms ist seine Modularität. Nicht nur lässt er sich in der Länge auf die tatsächliche Anwendung anpassen. Durch eine Varianz von verschiedenen Greifaufsätzen, eignet er sich für ganz verschiedene Anwendungszwecke.

Der Formgreifer DHEF greift Objekte nach dem Prinzip, mit dem eine Chamäleonzunge Insekten packt. Er eignet sich wunderbar zum Handhaben von Kleinteilen oder zum Kommissionieren.
Der DHEF ist ein Erfolgsmodell aus dem Bionik-Labor, der auch von Festo als „echtes“ Produkt vermarktet wird.

Auch der adaptive Greiffinger DHAS ist schon in der Industrie im Einsatz.
Sein Verhalten ist inspiriert von Fischflossen. Gerade schmale Teile positioniert er sehr genau – etwa wenn sie auf der Fertigungslinie in ihre Verpackung wandern sollen.

Der Fingripper war das Vorgängermodell des DHAS.
Neben der Fischflosse diente hier der Mensch (!) als Inspiration. Das Greifprinzip ist ähnlich wie der Präzisionsgriff, den uns unser Daumen ermöglicht.

Jeweils zwei Finger der BionicSoftHand (weiter oben in voller Größe zu sehen) bilden bei diesem adaptiven Zangengreifer zwei Wurstfingerchen. Die greifen damit umso besser.

Die BionicSoftHand-Ausführung mit drei Fingern.
Auch sie packt so sicher zu, wie wir Menschen mit unserem Daumen. Eine Vielzahl von Teilen kann so sicher transportiert werden.


Innovation um der Innovation wegen

Kurzes Zwischenfazit: Der BionicSoftArm hat einen konkreten industriellen Zweck. Und er steht nicht alleine da. Gerade die verschiedenen modularen Greifaufsätze werden mittlerweile tatsächlich von Festo produziert und sind nicht nur bloße Konzeptstudien. Sie generieren Umsatz.  Aber wie sieht das mit anderen Bionik-Projekten aus?

Schließlich erzählt Sebastian Schrof auch von Krakenrobotern oder schoßhundgroße Libellenfliegen. Bringen solche Konzepte den kollaborativen Arbeitsraum von morgen voran oder haschen sie eher nach dem Showeffekt? Karoline von Häfen sagt hierzu: „Die Faszination der Bionik speist sich eben aus diesem Freiraum.“ Schrof ergänzt: „Nicht jedes unserer Projekte muss unmittelbar einen industriellen Zweck haben.“

Karoline von Häfen hat Freiheit bei Festo (1:03 min)


„Wenn wir erfolgreich bleiben wollen, dann brauchen wir innovative Felder wie die Bionik.“

Karoline von Häfen, Leiterin Corporate Bionic Projects bei Festo

Mit dieser Freiheit im Rücken dürfen sich die Bioniker*innen in der Natur umschauen. Begegnet ihnen ein faszinierendes Phänomen, egal ob auf dem wochenendlichen Spaziergang oder beim Zoobesuch, kann das theoretisch der Beginn eines Projekts sein. Die Bioniker*innen forschen daran, worauf sie Lust haben. Und Lust, das scheinen sie zu haben – schließlich ist das gesamte Labor übersät von Komponenten und Projekten, die sich in der Entwicklung befinden.

„Ja, da steckt natürlich richtig viel Arbeit drin“, gibt Schrof zu. „Und manchmal will es einfach nicht klappen. Es gab Tage, an denen Tauchroboter ins Wasser gelassen wurden, nur um nie wiederaufzutauchen.“ Dieses Risiko schwingt also immer mit, Arbeiten aus Spaß an der Freude. „Aber …!“, rufen jetzt wahrscheinlich geneigte Betriebswirtschaftler*innen aus. „Aufwand betreiben ohne klar definiertes Ziel, darf man das überhaupt als multinational agierendes Unternehmen wie Festo?“

„Diese Frage hören wir natürlich ziemlich oft“, gibt von Häfen zu. „Aber das hat natürlich seinen Sinn. Wir sind auf Innovation angewiesen, wenn wir erfolgreich bleiben wollen. Und für echte Inspiration müssen wir eben Felder bearbeiten, die noch nicht erschlossen sind. Die Bionik ist eines, das wir Menschen vermutlich niemals ausschöpfen können.“ Und für Schroff steht sein Themenfeld sogar in der Tradition der großen schwäbischen Erfinder:

Sebastian Schrof kann nicht anders als innovativ – schließlich ist er Schwabe (0:35min)

Festo SE & Co. KG

Wo eine automatisierte Fertigungslinie steht, da sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Komponenten der Festo SE & Co. KG im Einsatz. Die Spezialität des Maschinenbauers liegt in der Pneumatik, der Erzeugung von Bewegung per Druckluft. Der Hauptsitz des Familienunternehmens befindet sich im schönen Esslingen am Neckar, in den mittlerweile 61 Landesgesellschaften arbeiten rund 21.000 Mitarbeiter*innen.


Fotografie: Jan Hosan

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