Unter der Erdoberfläche zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein erzeugt eine einzigartige Maschine das intensivste Röntgenlicht der Welt. Physiker, Biologen, Chemiker und Mediziner aus aller Welt treffen sich hier, um Entdeckungen zu machen, die unsere Zukunft bestimmen werden.
Es gibt sie zahlreich: Die Dinge, die wir Menschen nicht sehen. Weil sie zu schnell sind. Weil sie zu klein sind. Oder weil sie sich tief im Inneren von Undurchdringbarem abspielen. Theoretisch können wir sie zwar verstehen und beschreiben – Moleküle zum Beispiel, und ihre Reaktionen miteinander. Aber wieviel mehr könnten wir erfahren, wenn wir diese Dinge beobachten oder sogar fotografieren könnten? Dafür brauchen wir ein Blitzgerät mit extrem kurzer Wellenlänge, kürzester Pulslänge und hoher Wiederholfrequenz: Ein Röntgenlicht-Stroboskop, so kurzwellig und schnell, wie noch nie zuvor vom Menschen erschaffen.
Der „European X-Ray Free-Electron Laser“ (European XFEL), ein unterirdischer Teilchenbeschleuniger, meistert diese Herausforderung. Seine Forschungsmöglichkeiten sind einzigartig. Er beginnt auf dem Campus des deutschen Forschungs- und Beschleunigerzentrums „Deutsches Elektronen Synchrotron“ (DESY) in Hamburg-Bahrenfeld. Von dort aus beschleunigt er auf einer unterirdischen 3,4 Kilometer langen Rennstrecke freie Elektronen auf irrsinnige Geschwindigkeiten, um Röntgenlaserblitze zu erzeugen.
Diese ermöglichen in Schenefeld in Schleswig-Holstein Experimente, von denen Physiker, Biologen, Chemiker und Mediziner bislang nur träumen konnten. Es geht um die großen Menschheitsfragen von der Entstehung unseres Planeten bis zum Sieg gegen den Krebs. Wie das geht? Um das zu zeigen, steigen wir in den Untergrund und folgen einem Elektronenpaket.



Elektronenkanone
38 Meter unter der Erdoberfläche gibt die Elektronenkanone den Startschuss. In ihrem hohlen Inneren schießt ein ultravioletter Laser genau kalkulierte Blitze auf eine Elektrode. Sein Licht löst einen Schauer von Elektronen aus. In den Hohlräumen beschleunigt und paketiert ein Hochfrequenzfeld die Elektronen. Das Magnetfeld der deutlich erkennbaren blauen Spulen hält sie auf der Bahn und schickt sie in einer Vakuumröhre Richtung Experimentierhalle in Schenefeld.
Pro Sekunde verlassen bis zu 27.000 praktisch identische Elektronenpakete die Kanone.
Das ist die Grundvoraussetzung, um am Ende des Tunnels ein perfektes Röntgenstroboskop für die Experimente zu haben. Jeder noch so kleine Unterschied der Pakete würde die Daten der Forscher*innen beeinträchtigen.
Hochfrequenzfelder katapultieren die Teilchen durch die ersten 70 Meter der Strecke, direkt auf die Module eines Linearbeschleunigers zu. Sie haben schon jetzt eine Energie von 130 Megaelektronenvolt und ein Tempo von 99,9992 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Doch jetzt geht es erst richtig los.

Linearbeschleuniger
Acht Hohlraumresonatoren stecken in einer zwölf Meter langen knallgelben Röhre. Jeder Resonator aus dem Metall Niob badet in flüssigem Helium, denn das bringt ihn auf tiefste Temperaturen. Bei -271 Grad Celsius liegt der elektrische Widerstand bei Null. Der Resonator ist dadurch supraleitend. Im Resonator schwingende Mikrowellen übertragen ihre Energie auf die Elektronenpakete in der Vakuumröhre.
Hat ein Elektronenpaket ein Modul passiert, jagt es sofort zum nächsten – 96 Mal in Folge – denn so viele Beschleunigerelemente verbergen sich in diesem Streckenabschnitt unter der Erde.
So nah an der Lichtgeschwindigkeit passiert etwas Ungewohntes: Während die Geschwindigkeit in Kilometern pro Sekunde kaum noch zunimmt, steigt die Masse der Teilchen proportional zur Energie. Auf der gesamten Beschleunigerstrecke durchlaufen die Elektronenpakete 17,5 Gigaelektronenvolt.
27.000
Elektronenpakete
jagen jede Sekunde durch diesen Tunnel.
Die Elektronen haben ein Tempo von bis zu
99,99999996
Prozent
Lichtgeschwindigkeit.
Licht kann
300.000
Kilometer
in der Sekunde zurücklegen.
Dieser Beschleuniger lädt die Elektronen mit
17,5
Gigaelektronenvolt (GeV)
auf. Das ist 175 x so stark wie
ein Blitz bei einem Gewitter.
Ein Modul misst
12
Meter
und beinhaltet
8 Hohlraumresonatoren.
-271
Grad Celsius
ist die Temperatur des Heliums an den Resonatoren.
Das ist kälter als die Temperatur des Weltraums.
96
knallgelbe Beschleunigerelemente
gibt es in diesem Tunnelabschnitt.
Sie liegen hintereinander.
Der Durchmesser des Tunnels, der vom DESY bis zum Hauptgebäude des European XFEL führt, liegt zwischen
5,30
und
4,60
Metern.
In diesem Tunnel dürfen sich unter strengen Sicherheitsbedingungen Wissenschafter*innen, Ingenieur*innen und Techniker*innen nur aufhalten,
wenn der Strahl ausgeschaltet ist.
Die Elementarteilchen befinden sich in einem Vakuumrohr innerhalb der Tunnelröhre. Die Röhre ist mit Stahlträgern an der Tunneldecke aufgehängt.
Die 2 Kilometer Beschleunigerstrecke
legen die Elektronen in
6,67
Mikrosekunden
zurück.
Im Betrieb verbraucht
die Maschine so viel Strom wie
1 komplette Kleinstadt oder
2
ICE
unter Volllast.
Fast geschafft!
Nachdem das Elektronenpaket den Linearbeschleuniger Modul für Modul hinter sich gelassen hat, bleiben nur noch 1.400 Meter bis zu den Stationen, an denen experimentiert wird. Höchste Zeit, das Röntgenlicht zu erzeugen. Da jede Experimentierstation das Licht mit ganz bestimmten Wellenlängen und Eigenschaften braucht, ist der Tunnel ab hier verzweigt, um die Elektronenpakete in unterschiedliche Richtungen zu schicken.

Aus der Vogelperspektive
Ein ausgeklügeltes System aus Magneten, Undulatoren und Spiegeln erzeugt, formt und verzweigt die Röntgenstrahlen über mehrere Stufen. Den Anfang macht der Elektronenverteiler unter dem Ortsteil Osdorf in Hamburg
!Der Elektronenverteiler
Wenn die Pakete den Elektronenverteiler im Hamburger Ortsteil Osdorfer Born erreichen, haben sie 2.100 Meter in 6,67 Mikrosekunden zurückgelegt und sind mit einer Energie von 17,5 Gigaelektronenvolt aufgeladen. Hier verzweigt sich der European XFEL in zwei Tunnel.
Ein Magnet kickt einen Teil der Elektronen nach links, während andere den Kurs halten. Fliegen sie in das weiterführende Tunnelsystem, machen sie ziemlich bald die Bekanntschaft mit einem Undulator.

Der Undulator
Der Undulator ist 200 Meter lang und mit Permanentmagneten bestückt. Diese sind so angeordnet, dass sich die Richtung ihrer Magnetfelder abwechselnd umkehrt. Die Kraft dieser Magnete würde reichen, das Gewicht von 375 Autos zu heben. Stattdessen üben sie ihre Kraft auf die winzigen Teilchen aus und zwingen die Elektronenpakete in einen Slalomkurs. Mit jeder Kurve geschieht, was geschehen soll: Die einzelnen Elektronen strahlen Energiebündel ab – hochenergetische, extrem kurzwellige Röntgenphotonen – die ersehnten Röntgenblitze.
Die Undulatoren befinden sich an drei verschiedenen Stellen, in dem sich immer weiter verzweigenden Tunnelsystem. Ein Durchflug passt die Lichtblitze speziell für die Experimente der Wissenschaftler*innen an. Eine Feinjustierung nimmt die Mannschaft per Fernsteuerung vom DESY vor.
Jetzt werden die Elektronen von den Photonen getrennt.Die Elektronenablenkung
Die Photonen jagen als ersehnte Röntgenblitze auf die Experimentierstationen zu. Sie halten Kurs auf die Stationen in Schenefeld, wo die Forscher*innen sie für ihre Experimente erwarten. Die Elektronen hingegen haben ausgedient. Die beiden Elementarteilchen müssen also voneinander getrennt werden.
Dafür nutzt die Maschine die Tatsache, dass Photonen sich von Magneten nicht lenken lassen. Ein weiterer Hochleistungsmagnet sorgt für Ordnung. Sein Magnetfeld schickt die Elektronen an der nächsten Gabelung in eine Sackgasse. Die Photonen dagegen fliegen unbeirrt weiter.
Diese Magnetspulen aus Kupfer stecken in roten Stahlblöcken und dienen dazu, den Elektronenstrahl zusammenzuhalten.

Der Elektronenauffänger
Die Maschine erzeugt mit Hilfe der Elektronen die perfekten Photonen für die Experimente. Jetzt werden sie nicht mehr gebraucht. Magnete lenken sie in einen mit Graphit gefüllte Röhre unterhalb der Tunnel. Dort, nur 11 Mikrosekunden nach dem „Kick-off“ in der Elektronenkanone, wird der Elektronenstrahl kontrolliert abgebremst und absorbiert.

Die Photonenstrahlführung
Die Photonen jagen nun in drei verschiedenen Photonentunneln durch Vakuumröhren. Hier sind sie unter sich, ohne jegliche Interaktion mit Materie. Jedes Elektronenpaket hat in jeder Undulatorkurve Photonen genau gleicher Energie und Wellenlänge abgegeben. So entstehen Schwärme von Röntgenblitzen, die in exakt vorgegebener Frequenz aufeinander folgen. Ihre Energie ist so hoch und die Wellenlänge so kurz, dass dieses Licht fast alles durchdringt. Es lässt sich kaum noch lenken. Der Rest des Weges ist deshalb schnurgerade.

Oder aber es geht weiter zur Diagnostik
Der Spiegel
In jedem der schnurgeraden Tunnel korrigiert ein Spezialspiegel die Photonenbahn noch einmal minimal und richtet die Pulse exakt auf die Experimente der Wissenschaftler aus.
Jeder Spiegel ist ein Siliziumblock, der in einem Reinstraum im Hochvakuum steht. Er wurde fast ein Jahr lang poliert, bis seine größten Unebenheiten geringer waren als ein Milliardstel Meter. Das ist weniger als ein Fußabdruck am Strand im Vergleich zum Durchmesser der Erde. Das Ziel ist jetzt in Sichtweite, für die Röntgenlaserblitze geht es nun die letzten Meter zu den Instrumenten.

Die Diagnostik
Dieses Diagnosegerät misst das Spektrum und die Polarisation der Photonen in einer der Tunnelverzweigungen. Es identifiziert die Eigenschaften der Pulse: ihre Helligkeit, Polarisation und Wellenlänge, also Farbe. Es nennt sich Photoelektronen-Spektrometer. Andere Diagnostik-Geräte arbeiten mit Kameras, Filtern oder Kristallen.

Die Experimentierhalle
In Schenefeld, unter dem Hauptgebäude von European XFEL, münden die drei Tunnelsysteme in eine gewaltige unterirdische Experimentierhalle. Hier, auf 4.500 Quadratmetern, betreiben interdisziplinäre Teams von Wissenschaftler*innen Grundlagenforschung – in einem Jahr bis zu 3.000 Nutzer aus aller Welt. Zurzeit stehen für die Versuchsanordnungen sechs Stationen zur Verfügung, vier weitere sind geplant.
Jede Station ist mit speziellen Instrumenten für das jeweilige Anwendungsgebiet ausgestattet. In einem Kontrollraum passen die Wissenschaftler*innen die Eigenschaften des Röntgenlichts exakt auf die Anforderungen ihres Experiments an. Im Inneren des Instruments treffen das Licht und die zu untersuchende Probe aufeinander.
Station für Hohe Energiedichte (HED)
Station für Struktur und Dynamik von Materialien (MID)
Station für Femtosekunden-Röntgenexperimente (FXE)
Station für Partikel, Cluster und Biomoleküle (SPB/SFX)
Station für kleine Quantensysteme (SQS)
Station für Spektroskopie komplexe Strukturen (SCS)
European XFEL
European XFEL ist eine nicht gewinnorientierte Forschungsorganisation. Um dieses Projekt auf die Beine zu stellen, schlossen sich 12 Länder zusammen. Am Bau des Projekts beteiligten sich zahlreiche Partner, darunter vor allem das Deutsche Elektronen-Synchroton (DESY), ein Forschungszentrum für naturwissenschaftliche Grundlagenforschung. Der wissenschaftliche Betrieb startete im Jahr 2017, mittlerweile arbeiten 500 Mitarbeiter*innen bei European XFEL. Die derzeit sechs Experimentierstationen sind sehr gefragt. Weltweit können sich Wissenschafter*innen aus Forschung und Industrie für eine definierte Strahlzeit bewerben.