Warum Festo seine Bioniker*innen einfach mal machen lässt

Der schwä­bi­sche Maschi­nen­bauer Festo hat ein Mittel, um den deut­schen Erfin­der­geist am Leben zu erhalten: voll­kom­mene Frei­heit. Die Zukunfts­macher*innen des Bionik-Labors dürfen sich ihre Heraus­for­de­rung selbst schaffen. Wie groß­artig ist das denn?

Für ihren Job brennen viele. Sagen sie zumin­dest. Im Bionik-Labor der Esslinger Festo-Zentrale muss es niemand ausspre­chen, man merkt es den Menschen an. Zum Beispiel an diesem verzückten Augen­auf­schlag, sobald jemand das Wort Bionik ausspricht. Oder daran, wie schnell die Zukunfts­macher*innen über ihre Erfin­dungen ins Plau­dern kommen, auch wenn eigent­lich niemand Zeit für ein einfal­lendes Recher­che­team mit naiven Fragen und im Weg herum­ste­henden Kameras hat. Einer der Menschen mit wenig Zeit ist Sebas­tian Schrof. Sein Jobtitel ist der perfekte Konver­sa­ti­ons­starter für den Party-Small­talk: Specia­list Bionics and Design.

Die Bionik braucht die Denke von Desi­gnern wie Sebas­tian Schrof (1:01 min)

Auf einer Zehner-Skala bewertet er seinen Job mit 9,9. Und er sagt uns, warum: „Das Schöne an der Bionik ist, dass wir kein Problem lösen müssen.“ Nein, Schrof und seine Kollegen dürfen sich ihre Heraus­for­de­rungen selbst schaffen. Wenn sie in der Natur etwas inspi­riert, dann dürfen sie sich mit allen Mitteln darauf stürzen, es tech­nisch nach­zu­emp­finden. Ob und wie sich indus­triell Gewinn daraus schlagen lässt, ist erst mal zweit­ran­ging.

„Wir in der Bionik kennen kein Lasten­heft.“

Sebas­tian Schrof, Specia­list Bionics and Design bei Festo

Was aber nicht bedeutet, dass die Ansprüche daheim­bleiben: „Unser Ziel ist es immer, dem natür­li­chen Vorbild so nahe wie möglich zu kommen“, sagt Schrof. Aber wie geht das eigent­lich? Wie über­trägt man die an Komple­xität nicht zu über­tref­fende Natur in die Technik? Schließ­lich hat Schrof als junger Indus­trie­de­si­gner weder Biologie noch Tech­no­logie studiert. Statt akade­mi­scher Methodik bedient er sich derselben Mittel, mit denen auch Projekte seines jungen Sohns beginnen: Knete, Stöck­chen und viel Vorstel­lungs­kraft. Hieraus entsteht ein erstes grobes Modell.

Dann kommen andere Spezia­listen an Bord, Mechatroniker*innen, Elektroniker*innen oder Informatiker*innen zum Beispiel. Schrof: „Jetzt passiert das wich­tigste, der gemein­same Dialog. Durch das Erklären und Nach­fragen verknüpfen sich bei mir im Kopf immer verschie­dene Dinge zu Lösungen. Das passiert bei meinem Gegen­über auch. Und wenn wir beide dann unsere Ideen wiederum verknüpfen, dann passiert auf einmal Inno­va­tion.“    

Bioniker*innen schauen sich die besten Kniffe aus der Natur ab und über­tragen diese auf die Technik.

Wasser­ab­wei­sende Lotus­ober­flä­chen sind ebenso eine bioni­sche Errun­gen­schaft, wie der Klett­ver­schluss am Kinder­schuh.

Törööö! Inspi­riert vom Elefanten

Spätes­tens jetzt inter­es­sieren Sie sich wahr­schein­lich dafür, was konkret im Bionik-Labor bei Festo entsteht. Ein gutes Beispiel ist der Bionic­SoftArm, eine buch­stäb­lich elefan­töse Errun­gen­schaft. Es handelt sich um einen Leicht­bau­ro­botor, der dem Rüssel der grauen Dick­häuter nach­emp­funden ist. Entspre­chend zieht er die Blicke auf sich, sobald er mit seinen pneu­ma­ti­schen (also per Druck­luft ange­trie­benen) Bewe­gungen loslegt.

Gerade zu kunst­voll muten Bewe­gungs­ab­läufe an. Das Exponat im Bionik-Labor schnappt sich mittels eines Grei­fers (der übri­gens wiederum wie eine Chamä­le­on­zunge funk­tio­niert) kleine Metall­ku­geln und bringt sie von Punkt A nach B – „pick and place“ nennt sich das im Fach­jargon.

Für das Empfinden des Zuschauers ist das etwas anderes, als den Arbeits­tieren in einer Auto­mo­bil­fa­brik beizu­wohnen. Die Rüssel­in­spi­ra­tion erschließt sich sofort dem Gehirn, das beson­dere an der Bionik wird deut­lich. Schrof beschreibt den Bionic­SoftArm wie einen Kollegen: „Er ist ein sehr dyna­mi­scher Typ. Er kann kräftig zupa­cken, ist aber auch sanft, wenn nötig. Ich arbeite gerne mit ihm zusammen.“

Sein Vorbild: Der Elefan­ten­rüssel. Die flie­ßenden Bewe­gungs­ab­läufe beherrscht der Bionic­SoftArm dank einer pneu­ma­ti­schen Balg­struktur stufenlos. Die Falten­bälge sind einzeln ansteu­erbar, verkrümmen oder versteifen sich also ganz beliebig.

Brau­chen wir das wirk­lich?

Karo­line von Häfen, Leiterin Corpo­rate Bionic Projects bei Festo, ist ganz verliebt in die Bionik.

Nett ist er also, der Bionic­SoftArm. Aber ist er auch gut in dem, was er kann? Kugeln aufnehmen, das klingt im ersten Moment nicht wie ein Must-Have. Und doch, laut den Festo-Bioniker*innen ist der Leicht­bau­ro­boter ein wich­tiger Schritt. Das bestä­tigt auch Karo­line von Häfen, die Chefin des Labors: „Zurzeit sind die Arbeits­räume von Roboter und Mensch oft getrennt. Allein aus Sicher­heits­gründen ist das oft notwendig.“ In Gegen­wart des Bionic­Soft­Arms muss jedoch niemand um Leib und Leben fürchten, da er gege­be­nen­falls ja auch sanft sein kann.

Für den direkten Kontakt zwischen Menschen und Maschine haben pneu­ma­ti­sche Roboter einen entschei­denden Vorteil: ihre system­ei­gene Nach­gie­big­keit. Die Bewe­gung erfolgt hier schließ­lich über soge­nannte Aktoren, so der Fach­be­griff für die Kompo­nente, die Steue­rungs­si­gnale in Bewe­gungen umwan­delt. Im Falle der Pneu­matik schießt je nach Bewe­gung gezielt Druck­luft in bestimmte Aktoren, so dass das der gewünschte Ablauf beginnt. Sollte es zu einer Kolli­sion kommen, gibt das System auto­ma­tisch nach und stellt damit keine Gefahr für seinen Gegen­über dar. Gerade pneu­ma­ti­sche Roboter bieten also den Vorteil, dass man sich problemlos mit ihnen den Raum, ja sogar den Arbeits­platz teilen kann.

Der Bionic­Cobot ist einer der Ahnen des Bionic­Soft­Arms. Im Zusam­men­spiel mit ihm zeigt Sebas­tian Schrof eindrück­lich, wie sicher die kolla­bo­ra­tiven Arbeits­räume der Zukunft sind.

„Allein unter dem Über­be­griff der kolla­bo­ra­tiven Arbeits­räume warten sehr viele span­nende Konzepte, die unseren Alltag komplett verän­dern können“, sagt von Häfen. Appa­rate wie der Bionic­SoftArm ermög­li­chen diese Konzepte – und zwar preis­günstig für Anwender*innen. Die Stärken pneu­ma­ti­scher Antriebe liegen in der einfa­chen Hand­ha­bung und der Robust­heit, den geringen Anschaf­fungs­kosten und hohen Leis­tungs­dichte. So können sie vergleichs­weise hohe Kräfte bei geringem Eigen­ge­wicht aufbringen. Halte­vor­gänge kommen ohne weiteren Druck­luft­ver­brauch aus und sind damit äußerst ener­gie­ef­fi­zient.

Ein Clou des Bionic­Soft­Arms ist seine Modu­la­rität. Nicht nur lässt er sich in der Länge auf die tatsäch­liche Anwen­dung anpassen. Durch eine Varianz von verschie­denen Greif­auf­sätzen, eignet er sich für ganz verschie­dene Anwen­dungs­zwecke.

Der Form­greifer DHEF greift Objekte nach dem Prinzip, mit dem eine Chamä­le­on­zunge Insekten packt. Er eignet sich wunderbar zum Hand­haben von Klein­teilen oder zum Kommis­sio­nieren.
Der DHEF ist ein Erfolgs­mo­dell aus dem Bionik-Labor, der auch von Festo als „echtes“ Produkt vermarktet wird.

Auch der adap­tive Greif­finger DHAS ist schon in der Indus­trie im Einsatz.
Sein Verhalten ist inspi­riert von Fisch­flossen. Gerade schmale Teile posi­tio­niert er sehr genau – etwa wenn sie auf der Ferti­gungs­linie in ihre Verpa­ckung wandern sollen.

Der Fingripper war das Vorgän­ger­mo­dell des DHAS.
Neben der Fisch­flosse diente hier der Mensch (!) als Inspi­ra­tion. Das Greif­prinzip ist ähnlich wie der Präzi­si­ons­griff, den uns unser Daumen ermög­licht.

Jeweils zwei Finger der Bionic­Soft­Hand (weiter oben in voller Größe zu sehen) bilden bei diesem adap­tiven Zangen­greifer zwei Wurst­fin­ger­chen. Die greifen damit umso besser.

Die Bionic­Soft­Hand-Ausfüh­rung mit drei Fingern.
Auch sie packt so sicher zu, wie wir Menschen mit unserem Daumen. Eine Viel­zahl von Teilen kann so sicher trans­por­tiert werden.


Inno­va­tion um der Inno­va­tion wegen

Kurzes Zwischen­fazit: Der Bionic­SoftArm hat einen konkreten indus­tri­ellen Zweck. Und er steht nicht alleine da. Gerade die verschie­denen modu­laren Greif­auf­sätze werden mitt­ler­weile tatsäch­lich von Festo produ­ziert und sind nicht nur bloße Konzept­stu­dien. Sie gene­rieren Umsatz.  Aber wie sieht das mit anderen Bionik-Projekten aus?

Schließ­lich erzählt Sebas­tian Schrof auch von Kraken­ro­bo­tern oder schoß­hund­große Libel­len­fliegen. Bringen solche Konzepte den kolla­bo­ra­tiven Arbeits­raum von morgen voran oder haschen sie eher nach dem Show­ef­fekt? Karo­line von Häfen sagt hierzu: „Die Faszi­na­tion der Bionik speist sich eben aus diesem Frei­raum.“ Schrof ergänzt: „Nicht jedes unserer Projekte muss unmit­telbar einen indus­tri­ellen Zweck haben.“

Karo­line von Häfen hat Frei­heit bei Festo (1:03 min)


„Wenn wir erfolg­reich bleiben wollen, dann brau­chen wir inno­va­tive Felder wie die Bionik.“

Karo­line von Häfen, Leiterin Corpo­rate Bionic Projects bei Festo

Mit dieser Frei­heit im Rücken dürfen sich die Bioniker*innen in der Natur umschauen. Begegnet ihnen ein faszi­nie­rendes Phänomen, egal ob auf dem wochen­end­li­chen Spazier­gang oder beim Zoobe­such, kann das theo­re­tisch der Beginn eines Projekts sein. Die Bioniker*innen forschen daran, worauf sie Lust haben. Und Lust, das scheinen sie zu haben – schließ­lich ist das gesamte Labor übersät von Kompo­nenten und Projekten, die sich in der Entwick­lung befinden.

„Ja, da steckt natür­lich richtig viel Arbeit drin“, gibt Schrof zu. „Und manchmal will es einfach nicht klappen. Es gab Tage, an denen Tauchro­boter ins Wasser gelassen wurden, nur um nie wieder­auf­zu­tau­chen.“ Dieses Risiko schwingt also immer mit, Arbeiten aus Spaß an der Freude. „Aber …!“, rufen jetzt wahr­schein­lich geneigte Betriebswirtschaftler*innen aus. „Aufwand betreiben ohne klar defi­niertes Ziel, darf man das über­haupt als multi­na­tional agie­rendes Unter­nehmen wie Festo?“

„Diese Frage hören wir natür­lich ziem­lich oft“, gibt von Häfen zu. „Aber das hat natür­lich seinen Sinn. Wir sind auf Inno­va­tion ange­wiesen, wenn wir erfolg­reich bleiben wollen. Und für echte Inspi­ra­tion müssen wir eben Felder bear­beiten, die noch nicht erschlossen sind. Die Bionik ist eines, das wir Menschen vermut­lich niemals ausschöpfen können.“ Und für Schroff steht sein Themen­feld sogar in der Tradi­tion der großen schwä­bi­schen Erfinder:

Sebas­tian Schrof kann nicht anders als inno­vativ – schließ­lich ist er Schwabe (0:35min)

Festo SE & Co. KG

Wo eine auto­ma­ti­sierte Ferti­gungs­linie steht, da sind mit hoher Wahr­schein­lich­keit auch Kompo­nenten der Festo SE & Co. KG im Einsatz. Die Spezia­lität des Maschi­nen­bauers liegt in der Pneu­matik, der Erzeu­gung von Bewe­gung per Druck­luft. Der Haupt­sitz des Fami­li­en­un­ter­neh­mens befindet sich im schönen Esslingen am Neckar, in den mitt­ler­weile 61 Landes­ge­sell­schaften arbeiten rund 21.000 Mitarbeiter*innen.


Foto­grafie: Jan Hosan